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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Nachbarhaus, das den Roschtschins, einem bejahrten Ehepaar, gehörte. Er hoffte, sich nun als Dorfbewohner beim Ortssowjet anmelden zu können und damit die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Passes zu erfüllen. »Morgen gehe ich als Allererstes zum Sowjet«, schrieb er Sweta. »Er ist in einem Dorf mit dem unerklärlich biblischen Namen Emmaus. Wir sollten herausfinden, was für Witzbolde die Landadeligen waren, die ihm den Namen gaben.« Lew machte sich auf den Weg nach Emmaus. Da der Passschalter geschlossen war, erhielt Lew eine Quittung und die Aufforderung, in der folgenden Woche wiederzukommen. Als die Vorsitzende des Dorfsowjets erfuhr, dass Lew Elektriker war, bot sie ihm einen Arbeitsplatz in einem der kleineren lokalen Kraftwerke an, doch er verzichtete, da er sich in Kalinin um eine Stelle bewerben wollte.
    Die Verzögerung war frustrierend. Lew hatte geplant, Sweta zu besuchen, aber die Passprobleme führten dazu, dass »meine Reise aufgeschoben werden muss«, wie er Sweta am 7. August informierte.
     
Ich habe heute bei Dir angerufen (irgendein Mädchen kam ans Telefon), um Dich so rasch wie möglich ins Bild zu setzen. Mein Pass wird »vielleicht heute nach 16 Uhr« fertig sein, aber höchstwahrscheinlich erhalte ich ihn erst, wenn der Passschalter wieder geöffnet ist, nämlich am Dienstag. Danach muss er dem Dorfsowjet zur Registrierung und dann der Polizei vorgelegt werden – möglicherweise Mittwoch oder wiederum Samstag (das Büro ist nur an 3 Tagen der Woche offen). Was für ein nervtötender Amtsschimmel. Zum Teufel mit den Schwachköpfen von der Sonderabteilung in Petschora.
     
    Vorläufig vertrieb Lew sich die Zeit in Kusminskoje. Die Roschtschins waren ihm sympathisch, doch als Stadtbewohner fand er ihre bäuerliche Lebensweise, die von vielen Landbewohnern geteilt wurde, seltsam und primitiv. Er beschrieb sie Sweta:
     
Meine beiden Alten – Pjotr Kusmitsch und Marfa Jegorowna – sind Analphabeten und kinderlos. Die Holzhütte der beiden besteht aus kleinen Vorzimmern und einem größeren Raum von ungefähr 6 x 6 m samt einer kleinen Küche an der Seite. Sie ist relativ sauber, verglichen mit meiner vorherigen Unterkunft sogar sehr sauber. Es riecht nach Ammoniak, denn der Schweinestall liegt nebenan (unter demselben Dach, das über den Innenhof hinwegragt) und dient auch als Toilette. So etwas habe ich noch nie gesehen, aber wenn man einem gewissen Volksgedicht glauben will, ist es typisch für Dörfer in Twer. Nach 20–30 Minuten bemerkt man den Geruch nicht mehr, und ich habe viel Freude an der Stille und Geräumigkeit und an der Beleuchtung des Tisches, an dem ich schreibe (mit einem Fenster vor mir und einem weiteren zur Linken), und an der Gelassenheit meiner Gastgeber.
   Die beiden lassen mich auf einem Tagebett in ihrem Hauptzimmer schlafen. Dafür zahle ich 10 Rubel am Tag und bekomme Vollpension, nämlich:
   1. Frühstück – wie alle anderen Mahlzeiten nehme ich es gemeinsam mit ihnen ein –, beispielsweise Kartoffeln mit Gurken, Hüttenkäse und Tee.
   2. Mittagessen – ich weiß immer noch nicht, woraus es sich zusammensetzt.
   3. Abendessen – entweder Suppe oder Kascha und Milch. Abends gibt es keinen Tee.
   Sie haben keine Bettlaken. Wäschewaschen war nicht abgesprochen, doch es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Großmutter dies erledigen wird, denn sie ist in den Siebzigern und arbeitet nicht auf der Kolchose. Der Großvater repariert dort Sättel. Er trinkt Wodka, raucht und hat Tuberkulose. Im Großen und Ganzen scheint er jedoch ein guter Kerl zu sein. Ich sollte ihnen auch ein paar Messer und Gabeln kaufen, denn sie besitzen nur einen Samowar und einige Teller und Löffel. Es ist recht erstaunlich.
     
    Von Kusminskoje konnte Lew zu Fuß nach Kalinin gehen, das nur 12 Kilometer entfernt war. Er besuchte die Stadt und schilderte ihre Vorzüge als Wohnort. Seiner Meinung nach war sie »hübsch«, hatte schöne Plätze und Straßen, gut erhaltene historische Gebäude und »nichts von dem geschmacklosen Gemisch von Stilen oder angeblichen Stilen gewisser Bauten zum Beispiel an der Gorki-Straße in Moskau«. Die Wohnungssituation lasse jedoch zu wünschen übrig, denn es sei fast ausgeschlossen, ein Quartier zu finden. In der Stadt gebe es viele »Neuankömmlinge«: entlassene Häftlinge, die durch Kalinins Nähe zur sowjetischen Hauptstadt angezogen würden. Sie zahlten 7 Rubel pro Tag lediglich für ein Bett in einem Wohnheim.

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