Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Moskauer Straße nach links ab und ging dann nach rechts auf die Sowjetstraße, die lange Hauptallee, die durch den Ort zum vier Kilometer entfernten Bahnhof führte. Dort wartete er auf den Zug nach Moskau, der aus Workuta kam – auf dem von Gulaghäftlingen gebauten Schienenstrang. Das MWD hatte ihm eine Fahrkarte aushändigen lassen, mit der er bis nach Kalinin reisen konnte, wo er eine Unterkunft suchen wollte.
Lews erstes Ziel war es, Sweta ausfindig zu machen. Sein Zug traf spät am Abend in Moskau ein. Überall war es dunkel. Vom Jaroslawler Bahnhof fuhr er zu Swetas Wohnblock, doch »die Lichter in den Fenstern waren aus«, und er wollte die Familie nicht wecken. Der letzte Zug nach Malachowka stand auf dem Kasaner Bahnhof bereit, und so fuhr Lew zu seinem Onkel Nikita, bei dem er die Nacht verbrachte. Am folgenden Morgen kehrte er nach Moskau zurück und klopfte an die Tür von Swetas Wohnung. Es war sein erster Besuch seit 1941 – dreizehn Jahre zuvor, als er sich an die Front aufgemacht hatte. Nun wurde die Tür, genau wie damals, von Swetas Mutter geöffnet. »Anastasia Jerofejewna, die selbst krank war, sagte, Alexander Alexejewitsch habe einen Schlaganfall erlitten und Sweta sei bei ihm im Sanatorium«, erinnerte sich Lew. Die Szene, die er sich eine Million Mal ausgemalt hatte – Sweta würde die Wohnungstür öffnen und ihn umarmen –, sollte nicht Wirklichkeit werden.
Lew kehrte zum Bahnhof zurück und stieg in einen Zug nach Bologowskoje, dem Haltepunkt, der Schirokoje am nächsten war, und ging von dort zu Fuß zum Sanatorium. In der Kleidung, die er seit seiner Abreise aus Petschora getragen hatte, dünn, bleich underschöpft nach seiner langen Zugfahrt in der Hitze, sah er unverkennbar nach einem gerade entlassenen Häftling aus, wodurch das Personal im Sanatorium auf ihn aufmerksam wurde. Lew entdeckte Sweta in der Abteilung, in der ihr Vater lag. Sie hatte sich gewünscht, dass sie beide in diesem Moment allein sein würden. »Ich möchte nicht, dass sich unser erstes Treffen vor anderen abspielt«, hatte sie sechs Monate zuvor geschrieben. Aber das war nun nebensächlich geworden, denn nur die Tatsache zählte, dass sie endlich zusammen waren. In diesen ersten Stunden konzentrierten sich ihre Emotionen jedoch auf Alexander. Sie saßen gemeinsam an seinem Bett, und Swetas Bruder Jara schloss sich ihnen im Sanatorium an. Lew spürte nun, dass er zu Swetas Familie gehörte. Über fünfzig Jahre später erinnerte er sich an eine rührende Geste der Freundlichkeit, durch die Swetas Vater ihm zu verstehen gab, dass er ihn als Schwiegersohn akzeptierte. Alexander konnte sich nicht im Bett aufsetzen, winkte aber Lew zu sich. Die beiden küssten einander, und Alexander sagte, er habe 30 000 Rubel auf seinem Sparkonto – genug, um eine Wohnung zu kaufen. »Das Geld ist für Dich und Sweta«, erklärte er.
An jenem Abend schrieb Lew aus dem Sanatorium an Swetas Mutter. Sein Tonfall war der eines langjährigen Schwiegersohns:
Liebe Anastasia Jerofejewna!
Swetka hat mich aufgefordert, Ihnen alles so, wie es ist, das heißt objektiv, zu schildern, und genau das werde ich versuchen. Erstens, Alexander Alexejewitsch war in einer besseren Verfassung, als ich nach Ihrem Bericht erwartet hatte … Er ist guter Laune und macht Witze. Die Klarheit seiner Gedanken und seines Gedächtnisses ist makellos, doch er hat noch Probleme mit dem Sprechen. Er redet etwas undeutlich, aber stets zusammenhängend. Wenn er etwas unterstreichen möchte, bringt er die Äußerung sehr klar, doch mit offenkundiger Mühe hervor.
Swetka ist wahrscheinlich erschöpft, was sie sich jedoch nicht anmerken lässt. Ich finde, sie sieht gesund aus, aber ich habe keinen Vergleich. Man hat uns eine Unterkunft zugewiesen: Jara istin der 5. Datscha, 1 ½ Minuten zu Fuß von hier, und ich bin mit Alexander Alexejewitsch und Swetka in der Abteilung. Bisher hat es keine Komplikationen gegeben.
Swetka glaubt, Alexander Alexejewitsch am 29. nach Hause begleiten zu können, wenn bis dahin eine eindeutige Entscheidung über seine Entlassung vorliegt … Im Moment ist es hier sehr kühl mit zeitweiligen Schauern, aber wir haben uns hin und wieder aus unserem Zimmer nach draußen aufraffen können. Swetlana und ich wollten ein paar Himbeeren sammeln, wurden jedoch durch die klatschnassen Sträucher abgeschreckt und gaben uns mit einem anderthalbstündigen Spaziergang und einem Ausblick über die umliegende Landschaft
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