Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Strelkow helfen, »alte Schulden« in Form aller möglichen Bestellungen und Versprechen »zu bezahlen«. So seltsam es scheint, werde ich mich in einer Woche von alten Freunden verabschieden. Und – dies ist weniger seltsam – ich bedaure manches. Natürlich nur, was Menschen oder, besser gesagt, ihre Gesellschaft angeht, obgleich die Möglichkeit besteht, mit einigen erneut zusammenzukommen, wahrscheinlich recht bald. Nebenbei, Strelkow hat im Moment mehr Bewegungsfreiheit als wir Übrigen, wodurch sich seine Stimmung unverkennbar hebt. Finanziell sind die beiden letzten Monate dreimal besser für ihn gewesen, erstens wegen allgemeiner Änderungen seiner Bezüge und zweitens, weil er zurzeit einen der Werkstattleiter vertritt, der im Urlaub ist …
Es ist mir nicht gelungen, jemanden aus K[alinin] zu finden. Aber das spielt keine Rolle. Wenn ich nicht länger als ein paar Tage bei Onkel N[ikita] bleiben kann, werde ich ohnehin nach K[alinin] fahren. Ich weiß noch immer nicht, wie viel länger ich noch hier sein werde. In keinem Fall dürfte die Verzögerung mehr als eine Woche dauern. Seit über 10 Tagen herrscht hier eine Hitzewelle, und gestern waren es fast 38 Grad, aber erst heute habe ich es geschafft, schwimmen zu gehen.
Vorgestern, als ich bei A. M. [Juschkewitsch] war, gestattete ich einem Arzt, meine Brust abzuklopfen und gründlich abzuhören. Es war derselbe Arzt, der mich vor 4 Jahren in die Krankenstation eingewiesen hatte. Er stellte fest, dass ich nach wie vor keinen besonderen Grund zur Klage oder Besorgnis habe, was mir ganz und gar recht ist.
Meinen Tanten habe ich immer noch nicht geschrieben. Morgen schicke ich Onkel N. einen Brief.
Pass auf Dich auf, Swet.
49 Lew und Sweta benutzten mit Regen assoziierte Bezeichnungen wie »Regenschirm« und »Mackintosh« für den Gulag.
50 Iwan Waljawin, Lews Bettnachbar in der Baracke. Er studierte 1950 am Schiffbauinstitut von Odessa, als man ihn verhaftete und zu zehn Jahren in Petschora verurteilte.
51 1949 musste Lew noch sechs Jahre seiner Gefängnisstrafe ableisten.
12
Lew wurde am 17. Juli 1954 entlassen. Seit seiner Ankunft in Petschora waren acht Jahre und vier Monate vergangen, doch unter dem 1948 eingeführten Punktesystem hatte er seine zehnjährige Haft um ein Jahr und acht Monate verringern können. Zur Vorbereitung seiner Abreise hatte er in den Werkstätten zwei Holzkoffer angefertigt, einen für seine Kleidung, seine Bettwäsche und andere persönliche Gegenstände, den zweiten für sein Werkzeug, das heißt für die Zangen, Schraubenschlüssel, Hämmer und Schraubenzieher, die er für die Arbeit als Mechaniker oder Elektroingenieur benötigen würde. Mit jeweils einem schweren Koffer in der Hand verließ er die Gefängniszone. Endlich war er frei.
Aber er konnte nicht sofort abfahren. Zuerst musste er seine Entlassungspapiere vom MWD bestätigen lassen, was ungefähr eine Woche dauerte. Während Lew auf die Papiere wartete, wohnte er bei den Alexandrowskis innerhalb der Industriezone, in derselben Wohnung, wo er sich 1947 mit Sweta getroffen hatte. »Schick Deine Briefe vorläufig noch hierher, aber adressiere den nächsten besser an Marusja [Maria Alexandrowskaja]«, hatte er Sweta kurz vor seiner Entlassung wissen lassen.
Diese letzten Tage in Petschora verbrachte er damit, sich von seinen Freunden zu verabschieden und weitere Vorbereitungen zu treffen. Er verpackte seine Bücher und schickte sie Onkel Nikita, der sie in seiner Wohnung in Malachowka lagern konnte. Außerdem ging er zum Markt in Kanin, der Nachbarsiedlung von Petschora. Dabei wurde er von Igor, dem elfjährigen älteren Sohn der Alexandrowskis, begleitet, der Petschora noch nie verlassen hatte. Es war sehr heiß, und Igor bekam auf der langen Wanderung nach Kanin Kopfschmerzen. Auf dem Markt kaufte Lew dem Jungen eine Eiswaffel, die erste seines Lebens – eine »unerhörte Delikatesse in Petschora«, erinnert sich Igor. Während er sein Eis aß, wurde er voneinem in Lumpen gekleideten Jungen bedrängt, der die Augen nicht von dem Wunder der Eiswaffel abwenden konnte. Lew hatte Mitleid mit dem Jungen und kaufte ihm mit seinem mühsam ersparten Geld ebenfalls ein Eis.
Nachdem Lew die Entlassungspapiere erhalten hatte, konnte er Petschora endlich den Rücken kehren. Er sagte seinen Freunden noch einmal Lebewohl und verließ das Lager durch das Haupttor des Holzkombinats. Mit seinen Koffern in den Händen bog er auf der
Weitere Kostenlose Bücher