Schicksal!
Liter Freiheit.
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D er nächste Monat verfliegt in einem trägen Nebel von Einliter-Fusel und billigem Wein. Ich trinke quasi den ganzen Tag, meistens allein, ab und zu zusammen mit einem anderen Obdachlosen, der zufällig mit mir auf derselben Bank, derselben Rasenfläche oder demselben Stück Zement sitzt.
Wenn ich was zu essen brauche, hole ich mir für neunundneunzig Cent einen doppelten Cheeseburger bei McDonald’s, gelegentlich besuche ich auch eine Suppenküche. Wenn ich einen Platz zum Schlafen brauche, suche ich mir eine Lücke zwischen ein paar Müllcontainern oder eine nette Bank draußen im Battery Park. Und wenn ich Geld brauche, bettele ich im Village, in SoHo oder auch mal in Chelsea, aber niemals weiter in Richtung Uptown als Penn-Station. Ich will es nicht riskieren, in die Nähe der East Side zu geraten oder sonst wohin zu gehen, wo ich Sara über den Weg laufen könnte.
Und den Central Park meide ich ganz.
Mein Mantel ist schmuddelig, und meine restlichen Sachen stinken mindestens genauso schlimm wie ich. Ich habe immerhin seit einem Monat nicht mehr gebadet. Mein Haar ist ölig und verfilzt, mein Bart verschmutzt und zottig und mit deutlich mehr als nur ein paar eingewachsenen Haaren durchsetzt. Ich habe Dreck unter den Fingernägeln und Blasen an den Füßen, und meine Schuhe haben Wasser-, Wein- und Urinflecken. Wenn ich huste, rasselt es in meiner Lunge. Wenn ich kotze, brennt es mir in der Kehle, und mein Magen fühlt sich an, als wolle er davonlaufen.
Jede Freude, die ich früher daraus gewonnen habe, meinen weniger glücklichen Mitmenschen zu helfen, ist unter einer dicken und verkrusteten Schicht aus Verlust, Verzweiflung und Selbstmitleid verlorengegangen.
Wenn ich nicht gerade um Geld bettele, verbringe ich den Großteil meiner Tage mit einer Flasche in einer braunen Papiertüte und was immer ich mir an Essen leisten kann. Dann hänge ich unter der Williamsburg Bridge ab oder beobachte unten im Battery Park das Kommen und Gehen der Fähren. Wobei ich hin und wieder einen Abstecher in den Riverside Park mache, wenn ich mich besonders abenteuerlustig fühle. Manchmal, an klaren Tagen wie heute, spaziere ich kurz vor Sonnenuntergang über die Promenade. Dann gehe ich zum Fußweg hinab, der direkt am Ufer des Hudson entlangführt, setze mich auf einen Stein und starre auf die George Washington Bridge.
In letzter Zeit habe ich mir oft vorgenommen, sie mal genauer in Augenschein zu nehmen.
Es ist schlimm genug, wenn man den Abstieg vom Vize-Präsidenten bei einer Bank wie Morgan Stanley zum Obdachlosen, der die Mülltonnen im Central Park durchstöbert, erleben muss. Aber wenn man so tief gefallen ist, wie ich gefallen bin, und wenn man so viel verloren hat, wie ich verloren habe, wird Hoffnung zu einem Wort, von dem man nicht einmal mehr träumt, weil es so schwer vorstellbar ist. Und irgendwann vergisst man ganz, was es bedeutet.
Immer stärker wird mir dabei klar, dass ich zum Inbegriff all dessen geworden bin, was ich als
Schicksal
stets verachtet habe. Ein betrunkener, erbärmlicher, wertloser Mensch. Eine reine Verschwendung der auf Kohlenstoff basierenden Lebensform.
Ich denke wieder darüber nach, warum so viele Menschen so große Probleme haben, auf ihren Pfaden zu bleiben. Wie sie dabei versagen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Wie sie sich selbst mit Besitztümern, Alkohol und anderen Ablenkungen von ihrer optimalen Zukunft abbringen. Und ich vermute, dass sie sich möglicherweise gar nicht so sehr von ihren Schicksalen ablenken. Vielleicht lenken sie sich vielmehr von dem Kampf ab, der Mensch zu sein bedeutet.
Ich lache. Kein krankes oder verzweifeltes Lachen und auch keines, das auf beginnenden Wahnsinn schließen lässt, sondern ein kurzes Auflachen voll bitterer Ironie.
Ich sitze auf einem Stein in einem Kirschblütenhain und starre auf die George Washington Bridge, während New Jersey auf der anderen Seite des Hudson wie ein Schatten von Manhattan wirkt. Hinter mir dröhnt der Verkehr über den Henry Hudson Parkway, während der Fluss an den Steinen fünf Meter unter mir leckt. Mitten im Frühjahr sind die Kirschbäume voll rosafarbener und weißer Blüten, aber in der letzten Märzwoche, nach einem langen, nicht enden wollenden Winter, sind die Äste so kahl und öde wie meine Zukunft.
Als ich noch einen kräftigen Schluck von meinem billigen Wein nehme, von dem die Hälfte über meinen Bart hinab bis auf meinen Mantel rinnt, ertönt eine Stimme auf dem Fußweg
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