Schicksal!

nicht erfassen. Es ist da, gerade außerhalb meiner Reichweite. Eine Erkenntnis. Eine Einsicht. Ein Verstehen, das meine derzeitigen Umstände in einen Zusammenhang setzt.
    Das Treiben im Wasser.
    Das kokonartige Gefängnis.
    Die mich umgebende Wärme.
    Der Klang von Saras Stimme und die Vibration ihres Herzschlages.
    Ich bin mir nicht sicher, ob es der Moment ist, in dem ich wieder zutrete und eine Antwort von Sara erhalte. Vielleicht ist es auch der Moment, in dem ich nach unten greife und feststellen muss, dass meine fast zwanzig Zentimeter Männlichkeit auf die Größe einer Erdnuss geschrumpft sind. Jedenfalls kommt die Erleuchtung zu mir wie die Stimme Jerrys.
    Das ist definitiv die Entwicklung, die ich am allerwenigsten erwartet hätte. Und es ist irgendwie bizarr, wenn man darüber nachdenkt. Aber wenigstens muss ich mich nicht um den Unterlassungsbescheid sorgen. Und es schlägt die Sache mit dem Totsein um Längen.
    Ich weiß nicht, wie weit ich bin. Der Größe meiner Erdnuss nach zu urteilen, schätze ich mal: rund drei oder vier Monate. Also bleibt mir noch etwas Zeit, um mich allmählich auf meine postfötale Zukunft vorzubereiten. Ja klar, wenn ich hier erst rauskomme, bin ich noch nicht fertig geformt und kann nicht sofort losziehen. Es wird anders sein als damals, als Jerry mich erschuf. Daher werde ich mich mit den Frustrationen und Einschränkungen der menschlichen Physiognomie abfinden müssen. Aber ich hatte schon immer eine schnelle Auffassungsgabe und war immer stolz auf mein gutes Gedächtnis.
    Trotzdem wäre es prima, wenn ich etwas zum Schreiben hätte – nur für den Fall, dass ich irgendwelche Ideen haben sollte. Umgeben von Fruchtwasser ist es allerdings eher schwierig, ein Tagebuch zu führen. Und außerdem bezweifle ich, dass es ein digitales Aufzeichnungsgerät durch den Vaginalkanal schafft.
    Apropos Vaginalkanal: Das ist wirklich nichts, worauf ich mich freue. Das ganze Geburtsding. All das Blut, die Plazenta und die Körperflüssigkeiten. All das Geschrei und das Gepresse. Und mal ehrlich: Wie um alles in der Welt soll ich durch diese enge Öffnung passen? Verdammt, ich hab ja kaum reingepasst, als ich von der anderen Seite des Eingangs kam. Klar, damals hatte ich auch mehr zur Verfügung als etwas von der Größe einer Erdnuss.
    Trotzdem freue ich mich natürlich darauf, hier herauszukommen. Das Problem ist nur: Sobald ich geboren werde, werden fast all meine Erinnerungen gelöscht. Die logische Folge aus dem Reinkarnationsgesetz. Ich hätte nie gedacht, dass mich das je betreffen würde. Ratet mal, warum. Wie dem auch sei: Ich denke, es besteht die Hoffnung, dass ich ein paar unterdrückte Erinnerungen mit rübernehmen kann. Doch ob es mir gelingt, mich an sie zu erinnern oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle. Ich freue mich einfach darauf, Sara wiederzusehen. Ich freue mich auf ihr Gesicht und ihr Lächeln, ihren Duft und ihr Lachen, ihre Liebe und Zuneigung.
    Außerdem freue ich mich darauf, das fortzusetzen, was ich begonnen habe.
    Ich kann die Menschen lehren, wie man ein besseres Leben führt. Wie man bessere Entscheidungen trifft. Wie man sich eine günstigere Zukunftsaussicht schafft. Ich kann ihnen beibringen, wie man seine Konsumsüchte ablegt. Wie man damit aufhört, sich von der äußeren Welt abhängig zu machen, nur um sich selbst zu definieren. Wie man Glück findet, das nicht in einer Zehn-Cent-Wundertüte von Macy’s oder einem Magic Eight Ball von Toys’R’-Us daherkommt.
    Und all das kann ich tun, ohne Vergeltungsmaßnahmen von Jerry befürchten zu müssen. Stimmt schon, da wäre noch die Kreuzigungssache. Aber ich hoffe mal, mir fällt noch etwas ein, wie ich aus der Nummer wieder rauskomme.
    Ich frage mich, ob mir irgendjemand Weihrauch und Myrrhe bringen wird.
    Ich frage mich, ob ich in der Lage sein werde, Wasser in Wein zu verwandeln.
    Ich frage mich, ob
Faulheit
und
Völlerei
gute Jünger abgeben werden.
    Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin der nächste Messias.

Über S.G. Browne
    Scott G. Browne wurde in Arizona geboren und wuchs in der Nähe von San Francisco auf. Er absolvierte ein Managementstudium in Kalifornien und stellte dabei fest, dass seine eigentliche Leidenschaft das Schreiben ist. Trotzdem arbeitete Scott eine Zeit lang als Produzent für Fernsehspots und Filmtrailer bei den Disney-Studios und als Büromanager. 2009 veröffentlichte er seinen ersten Roman, »Anonyme Untote«, dem 2011 »Schicksal!« folgte.

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