Schicksalsmord (German Edition)
schonend bei, dass sich Ulrike für die Beziehung mit ihm eigentlich noch zu jung und dadurch eingeengt fühle. Seine Betroffenheit darüber vertrieb ich mit der Feststellung, er habe durchaus Chancen bei Gleichaltrigen. Er machte es mir sehr leicht und ich ging nicht das geringste Risiko ein. Hätte er mich abgewiesen – niemand hätte ihm seine eventuellen Berichte über meine Avancen geglaubt. Schließlich war ich das begehrteste Mädchen der Schule und er ein verklemmter Spätentwickler. Nun aber wurde er zu meinem Ticket in die Freiheit.
Da die Zeit drängte, forcierte ich unsere Beziehung und erhielt dabei von meinen Eltern unerwartet Schützenhilfe. Mein Stiefvater wollte mich nur unter der Bedingung mit Thomas zum Studium gehen lassen, dass der seine ernsten Absichten durch eine Heirat mit mir dokumentiere. „Sonst gibt Lydia jetzt ihre gute Lehrstelle auf und kommt vielleicht nach einem Jahr mit einem abgebrochenen Studium und leeren Händen zurück“, argumentierte er. Dass Thomas unsere Eheschließung gegen den erklärten Willen seiner Eltern tatsächlich durchsetzte, hatte ich bis zuletzt bezweifelt. Es war einer meiner größten Siege, dem aber schon bald eine Reihe kleinerer Niederlagen folgen sollte.
Die erste Enttäuschung war die Wahl des Studienortes. Ich hatte München oder Berlin favorisiert, eine der großen Metropolen, in denen das Leben pulsiert. Thomas jedoch bestand auf dem provinziellen Gießen. Er lobte die Vorteile: Solide Ausbildung und niedrigere Lebenshaltungskosten, wobei ihm zweiteres offensichtlich sehr am Herzen lag. Wir bezogen zwei winzige schräge Kammern und lebten geradezu spartanisch, denn Thomas lehnte jegliche materielle Unterstützung durch seine Eltern ab. Sein Vater habe sich auch alles selbst erarbeiten müssen, gab er als Begründung an. Ich hatte mir ein anderes Leben vorgestellt.
Dennoch war unser Zusammenleben im Großen und Ganzen harmonisch. Wir verbrachten wenig Zeit miteinander, Thomas war ein äußerst eifriger Student und arbeitete nebenbei im Krankenhaus für unseren Lebensunterhalt. Er kontrollierte mich nie und ließ mir meine Freiheit, die ich zugegebenermaßen vor allem zur Zerstreuung nutzte. Ich wollte endlich leben und mein Studium sagte mir immer weniger zu. Da mir Medizin absolut nicht lag, hatte ich mich für Jura entschieden und mich bereits als Richterin oder Staatsanwältin gesehen. Nun musste ich feststellen, dass sich mir der trockene Stoff absolut nicht erschließen wollte. Thomas, der sich regelmäßig nach meinen Studienergebnissen erkundigte, bemerkte meine Probleme bald. Er riet, ich solle mir eine Lerngruppe suchen, der gegenseitige Austausch würde mir den Zugang zum Stoff erleichtern. Ich bemühte mich tatsächlich darum, doch dann ergab sich eine Affäre mit einem Dozenten, für die ich meine angeblichen Lernabende nutzte und als sie vorüber war, hatte ich so ziemlich den Anschluss verloren.
Thomas' Krankheit bot mir einen willkommenen Anlass, das ungeliebte Studium abzubrechen. Sein Leiden hatte mit einer harmlosen Erkältung begonnen, die sich über Wochen hinzog. Ich witzelte über die Unfähigkeit der Mediziner, einen simplen Schnupfen in den Griff zu bekommen und über ihre Wehleidigkeit, denn Thomas schleppte sich förmlich dahin. Eines Tages erhielt ich dann Bescheid, er sei nach einer Vorlesung bewusstlos geworden und man habe ihn zur Untersuchung ins Krankenhaus eingeliefert. Es stellte sich heraus, dass er sich eine Herzmuskelentzündung zugezogen hatte. Es war von Lebensgefahr und dauerhafter Schädigung die Rede. Ich bekam wirklich Angst und bangte um unsere Zukunft. Schließlich war dann doch alles nicht so schlimm, nur kam Thomas furchtbar langsam wieder auf die Beine und riss sich meiner Meinung nach viel zu wenig zusammen. Die Stimmung zwischen uns wurde zunehmend gereizt, und Thomas fuhr für längere Zeit allein zu seinen Eltern. Ich war froh darüber, zur Krankenpflegerin fehlt mir jede Begabung.
Erst nach über einem Jahr war Thomas einigermaßen wiederhergestellt, doch von einer Fortsetzung seines Medizinstudiums riet man ihm ab. Der Arztberuf wäre für ihn zu anstrengend und die Ansteckungsgefahr zu hoch, hieß es. Thomas sattelte auf BWL um und bewältigte diesen Studiengang mit neuem Elan in Rekordzeit.
Ich hatte inzwischen meine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin abgeschlossen - ich hasse die gängige Abkürzung Reno, das klingt nach einer Zigarettenmarke und irgendwie abwertend. Die
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