Schicksalsmord (German Edition)
schwieg ich. Das hatte schon lange niemand mehr gesagt. Als junges Mädchen war ich sehr stolz gewesen, wenn jemand die Ähnlichkeit mit meiner schönen Schwester bemerkte. Lydia hatte mir dann allerdings jedes Mal einen Dämpfer versetzt: „Du bist höchstens die Ausgabe für Arme!“ So richtig lustig fand ich das nie, obwohl sie wahrscheinlich Recht hatte. Neben ihr wirkte ich wie eine blasse Kopie.
Es war tatsächlich nicht weit bis zu Ines Helmchens Wohnung, sie lebte in einem hübschen Reihenhaus am Stadtrand. Das überraschte mich schon, Lydia hatte einmal erwähnt, sie sei nach ihrem Rausschmiss aus der Kanzlei völlig verarmt. Eine noch größere Überraschung erwartete mich beim Betreten des Wohnzimmers. „Das ist ja der reinste Dschungel!“, rief ich angesichts der überbordenden Pflanzenpracht aus. Wie zur Bestätigung meiner Worte begann ein großer blauer Papagei in seinem Käfig schrille Pfiffe auszustoßen. Sein Alarm weckte einen dicken grauen Kater, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Er räkelte sich träge und blinzelte uns aus seinen gelben Augen an, ohne seinen Platz zu verlassen. Ich fühlte mich augenblicklich wohl. Der wunderbar nach Schokolade und Vanille duftende Yogi-Tee, den Fräulein Helmchen uns brühte, tat ein übriges.
„Dieser Tee ist ein wunderbares Stärkungsmittel für Körper und Seele“, meinte sie. „Und das werden wir beide brauchen – für das, was ich jetzt mit Ihnen zu besprechen habe. Ich habe Sie nämlich schon einmal gesehen, beim Verlassen von Dietrichs Kanzlei, an dem Tag, als er starb.“
Meine Hand begann so heftig zu zittern, dass ich es kaum schaffte, die Teetasse abzustellen. „Ich war damals nur im Vorraum...“, setzte ich zu einer Erklärung an.
Sie schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab. „Sie sind wirklich ganz anders als Ihre Schwester, die hätte sofort abgestritten. Nun entspannen Sie sich mal. Was Sie in der Kanzlei wollten, können Sie mir immer noch sagen, nachdem Sie sich angehört haben, wieso ich an dem Abend dort war.“
Erschöpft lehnte ich mich zurück, was der Kater als Aufforderung verstand, sich auf meinen Schoß zu legen. Gemeinsam lauschten wir Ines Helmchens Worten, er schnurrend, ich immer noch zitternd.
„Ich will ganz von vorn beginnen, sonst wird nicht verständlich, was ich zu sagen habe. Fast 20 Jahre habe ich mit Dietrich Tanner zusammengearbeitet, wir haben die Kanzlei zusammen aufgebaut, das war fast schon wie eine Ehe. Es war Ihre Schwester, die meine Kündigung verschuldet hat. Beweisen konnte ich das natürlich nicht, gewusst habe ich es aber immer. Es war ein völlig unsinniger Racheakt. Lydia fühlte sich unglaublich clever, dabei war sie im Grunde dumm, sie kriegte nicht mal mit, wer es gut mit ihr meinte und wer nicht. Damals hatte sie ein Verhältnis mit einem Mandanten, der war Schönheitschirurg und ein richtiges Ekelpaket. Der sah in einer Frau nur ein willenloses Stück Fleisch, vielleicht war das ja berufsbedingt. Von dem Grundsatz, dass ein Kavalier genießt und schweigt, hielt er jedenfalls auch nichts. Vielmehr hat er sich genüsslich, detailliert und wenig fein über die Liebesfreuden mit Ihrer Schwester ausgelassen. Ich war nicht gerade Lydias Busenfreundin, aber so viel weibliche Solidarität, um sie vor dem Kerl zu warnen, besaß ich dann doch noch. Sie hat meinen Wink überhaupt nicht verstanden, hat mich nur angeschnarrt, ich solle mich aus ihrem Privatleben heraushalten. Das habe ich dann auch getan, aber kurz darauf passierte der Skandal mit den kopierten Akten. Dr. Tanner hat nie wirklich daran geglaubt, dass ich das war, aber was sollte er machen? Ich hatte als Einzige ein Motiv. Annabell, die Ex-Frau des geschädigten Mandanten, war mehr als eine gute Freundin, wir haben uns geliebt. Der Mandant bestand auf meiner Entlassung, das war für ihn wohl eine zusätzliche Rache an Annabell. Ich habe verstanden, dass Dr. Tanner nicht anders handeln konnte. Er hat mich großzügig abgefunden, er war ein anständiger Mensch.
Meine Freundin war außer sich. Sie war selbst in verantwortlicher Position berufstätig und wusste wie man sich professionell verhält. Das Mandat ihres Mannes in unserer Kanzlei war deshalb nie ein Thema zwischen uns gewesen. Genau das wurde uns zum Verhängnis. Als sie die Kopien anonym zugestellt bekam, hat sie das mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt und sie gleich an ihren Anwalt weitergeleitet. Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, dass sie
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