Schicksalspfad Roman
mochte.
»Du bist eine sehr nette Frau«, sagte Hoag nun im gleichen sachlichen Tonfall wie ein Naturforscher, der eine Beobachtung macht. Er hätte ebenso gut sagen können: »Das ist ein sehr alter Baum« oder »Das ist ein sehr großer Fisch.«
»Danke«, erwiderte Joanne. Kleine Wellen schlugen gegen das Boot.
Dann nahm Hoag die Sonnenbrille ab und sah sie mit seinen stahlgrauen Augen an. »Eine Schande, dass dein Mann dich nicht richtig geschätzt hat. Etwas Dümmeres kann man sich kaum vorstellen.«
Joanne war nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Warum hatte er die Sonnenbrille abgenommen?
»Komm her«, sagt Hoag nun sanft.
Er will mich küssen , dachte Joanne panisch. Das Schaukeln und Wiegen des Bootes schien sich auf ihren Magen auszuwirken. »Ich glaube, mir ist schlecht«, sagte sie jammernd. »Können wir bitte zurückfahren?«
Hoag sah sie einen Moment an. »Klar«, sagte er und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen, aber Joanne spürte, wie bedrückt seine Stimme klang. Er ließ den Motor an, und im nächsten Moment bewegte sich das Boot wieder.
Aber Joanne ging es dadurch nicht besser. Sie war tatsächlich seekrank.
Hoag musste das erkannt haben, denn er griff in die Plastiktüte und brachte etwas zum Vorschein, was wie unregelmäßige braune Zuckerwürfel aussah. »Hier«, sagte er. »Das ist kandierter Ingwer. Lutsch ein Stückchen.« Seine Stimme war tonlos, die Stimmung, in der er die Fahrt zum Leuchtturm vorgeschlagen hatte, war verschwunden. »Man kann auch versuchen, ein Ohr mit dem Finger zu schließen. Falls das nicht klappt, leg dich flach auf dem Rücken aufs Deck.«
»Danke.«
Der Ingwer schmeckte gut, und Joanne ging es etwas
besser, aber sie war immer noch schockiert und sogar wütend, dass Hoag sie anmachen wollte, obwohl er von ihrer momentan schwierigen Situation wusste. Sie hatte seine Schüchternheit und den offensichtlichen Mangel an sexuellem Interesse für selbstverständlich gehalten und bloß eine Stunde auf dem Wasser verbringen wollen, um der Welt eine Weile zu entkommen. Es war nicht die Tatsache, dass er sich ihr so genähert hatte, es war eher, weil sie noch nicht dazu bereit war. Damit hatte er nun alles verdorben. Sie hatte ihn verletzt. Offensichtlich glaubte er, dass ihr die Übelkeit zum richtigen Zeitpunkt eingefallen war. Joanne war sauer, dass er sie in eine solche Lage gebracht hatte. Hätte er nicht mindestens warten können, bis sie wieder an Land waren? In dem Boot war sie ja wie eine Gefangene.
Joanne schloss die Augen und steckte sich einen Finger ins Ohr, während Hoag sie schneller und ohne ein weiteres Wort zurückbrachte, als sie gekommen waren. Am Bootssteg ging es Joanne sofort besser. Selbst ihre Stimmung hob sich. Aber sie sah, dass Hoag noch tief getroffen war.
Sie hätte ihn gerne aufgeheitert, weil sie die Spannung zwischen ihnen jetzt nicht gut fand. Und sie wollte auch nicht, dass Nightingales nun für sie zum Tabu wurde.
Als die Suzanne wieder vertäut war, half Hoag Joanne vom Boot. Er war kein Idiot. Das wusste sie. Außerdem hatte er so viel durchgemacht - mehr als sie vermutet hatte. Viel mehr.
»Ich bleibe noch ein bisschen hier und werkel am Boot«, meinte Hoag steif. »Hoffentlich geht es dir jetzt besser.«
Joanne sah, dass er sich Mühe gab, etwas zu sagen.Vermutlich hatte er seit Jahren nichts mit Frauen zu tun gehabt und war nun echt verletzt. Doch er gab sich Mühe, es zu verbergen.
»Es tut mir leid«, sagte Joanne. »Aber du kannst das sicher verstehen, dass ich momentan mächtig in der Patsche sitze und …«
Hoag hob eine Hand. »Du brauchst nichts zu erklären. Es war ein schöner Ausflug. Bis dann in der Kneipe.« Damit drehte er sich um und ging unter Deck.
Joanne wollte noch mehr sagen, dass sie ihn mochte und nicht wollte, dass er nun aufgab. Aber sie war einfach noch nicht bereit dazu. Daher ging sie ohne einen Blick zurück los und merkte erst zu Hause, dass sie immer noch seine Kappe trug.
»Immerhin ist das Boot nicht gekentert«, sagte Joanne am Abend vor der dampfenden Schüssel mit Cajun-Krabben, die Cherry nach einem alten Familienrezept gekocht hatte. »Das war wohl das Beste an dem Trip.«
»War es denn so schlimm?«, fragte Grace, die an diesem Abend frei hatte. Sie schälte eine Krabbe und warf die Schalen in die Schüssel auf dem Tisch. »Was ist denn passiert?«
»Er hat versucht, mich zu küssen«, sagte Joanne.
»Versucht?«, fragte Cherry. »Du meinst, du hast ihn
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