Schiff der tausend Träume
Lederstühle aufgereiht waren. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Rednerpult.
»Bleiben Sie bitte hier in den letzten Reihen, Ma’am. Die sind für Besucher reserviert.« May wusste, dass er damit die Passagiere vom Zwischendeck meinte, und sie war erleichtert zu sehen, dass sie nicht die einzige tapfere Seele war, die sich in dieses fremde, unerforschte Revier vorgewagt hatte. Tatsächlich gab es mehrere Besucherreihen, und neben ihr saß eine andere Frau, die einen schäbigen Mantel und einen schlichten Hut trug. Bald füllte sich der Raum mit den Reichen und Schönen, wie ihre Nachbarin sagte, die zugab, nur hier zu sein, um zu gaffen und zu tratschen.
»Sind Sie auch hier, um zu sehen, wie die andere Hälfte lebt? Schauen Sie sich nur diese Hüte an. Ich wette, jeder einzelne kostet so viel, wie unserer Männer in einem Jahr verdienen. Trotzdem, sie bieten uns schon was fürs Auge; es heißt, die reichsten Männer der Welt sind an Bord, Astor, die Guggenheims … und ein paar von den schicken Weibsbildern sind garantiert nicht ihre Ehefrauen. Eine hab ich gesehen, die einen Hund mit Diamanthalsband auf dem Arm trug, ich bitte Sie.« Sie schwadronierte weiter, wer die Einzelnen waren und wer mit wem verwandt war; Namen, die May nichts sagten.
Dann traf der Kapitän ein, zusammen mit ein paar Besatzungsmitgliedern, die Arme voller loser Gesangsblätter, die durch die Reihen weitergereicht wurden. Er hielt einen schlichten Gottesdienst ab, der niemandem zu nahe treten sollte. Der Gesang war höflich und gedämpft, aber May liebte Kirchenlieder, und als »Oh God, our help in ages past« angestimmt wurde, sang sie unwillkürlich aus voller Kehle mit, ihr kräftiger Sopran verriet ihre Begeisterung, bis die Menschen sich umdrehten, um nachzusehen, woher der Lärm rührte. May errötete und senkte ihre Stimme.
Verstohlen nahm sie Kapitän Smith näher unter die Lupe. Er wirkte älter, als sie erwartet hatte, mit silbergrauem Haar und einer stattlichen Figur. May kam nicht umhin, an ihre versammelte Gemeinde daheim in Deane zu denken. Abermals überkam sie eine Woge der Panik bei dem Gedanken, dass sie nicht bei den anderen in der Kirche war. Sie war hier, eine Fremde unter Fremden, in einem stählernen Schiffsleib, auf Gedeih und Verderb den Wellen ausgesetzt. Morgen würden die jungen Frauen von der Baumwollspinnerei sich an ihren Maschinen aufstellen und die neue Woche ohne sie beginnen. Würde eine von ihnen sie vermissen?
Dennoch hatte sie die Gelegenheit, einen flüchtigen Blick auf eine Welt zu werfen, in der Passagiere Pelze, elegante Hüte, Samtmäntel und feine Lederstiefel trugen. Ein unruhiger, verwöhnter Dreikäsehoch, in Seide und weichen Wollstoff gekleidet, wurde von der Dienerin rasch hinausgeführt. May war froh, dass sie Ellen nicht mitgenommen hatte, nicht zuletzt deshalb, weil ihre schlichte Kleidung in schäbigem Kontrast zu den anderen gestanden hätte. Allein hatte sie Zeit, in Ruhe ihre Umgebung und die Gemeinde zu betrachten.
Noch nie hatte sie solch prächtige Räume gesehen. Die Wandverkleidung war mit herrlich geschnitzten Blumen und Blättern verziert. Joe würde wissen, wie man so etwas machte. Und über ihrem Kopf hingen elektrische Lichtkuppeln von weißen Stuckdecken.
Kein Wunder, dass an jeder Tür Stewarts standen, die dafür sorgten, dass ihresgleichen umgehend zu ihrem rechtmäßigen Deck zurückbegleitet wurden. Vor dem Herrn mochten alle gleich sein, lächelte sie kleinlaut, doch an Bord dieses britischen Schiffes waren alle standesgemäß untergebracht. Sie fühlte sich geehrt, im selben Raum wie diese großartigen Menschen zu sein, wenn auch nur für wenige Minuten. Ihr machte es nichts aus, getrennt zu werden. Das war nur recht und billig. Diese feinen Leute hatten viel mehr für ihre Tickets bezahlt, daher hatten sie all den Glanz verdient. Hier oben in der ersten Klasse war eine andere Welt. Ob Amerika auch so klassenbewusst war, oder war es wirklich das Land der Freiheit?
Celeste nahm an dem Gottesdienst im Speisesaal der ersten Klasse teil. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Berühmtheiten auf ihren Plätzen ganz vorn, wohlhabende, tonangebende Damen der ersten Kreise aus Boston und Philadelphia, die Crème der New Yorker Gesellschaft, die Astors, Guggenheims, Wideners, Walter Douglas, Gründer der
Quaker-Oats-
Lebensmittelfabriken – ein Gesicht, das zu Hause in Akron alle von der Lektüre des
Beacon Journal
kannten –, der mit seiner Frau aus
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