Schiff der tausend Träume
hatten einen Gönner in Amerika, der bereit war, ihnen ein neues Leben zu ermöglichen. Sie hatten beruflich nicht viel vorzuweisen, aber sie hatten einander und eine entzückende kleine Tochter, die strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Sie waren jung und hatten das ganze Leben noch vor sich. Am liebsten hätte sie sich wieder einmal gekniffen, um diese Wende in ihrem Schicksal zu begreifen, diese Chance, neu anzufangen.
May sah zufällig ihr Spiegelbild im Abteilfenster und lächelte. Eine Schönheit war sie nicht, aber sie hatte rosige Wangen, einen stämmigen Körper, und sie scheute sich nicht vor schwerer Arbeit, genau die junge Frau, die in der Neuen Welt aufblühen würde, wenn es stimmte, was man so sagte. Ein Segen, dass Ellen die hellen Locken und die meerblauen Augen ihres Vaters geerbt hatte. Dabei hatten sie das Meer noch nie gesehen. Aber bald wäre es so weit.
Plötzlich schlugen die Waggontüren zu, und Pfiffe signalisierten die bevorstehende Abfahrt des Zuges. Der Waggon ruckelte und warf May nach vorn.
Für einen kurzen Moment schwand ihr Optimismus, und Panik überkam sie.
Warum lassen wir alles, was uns vertraut ist, hinter uns? Was machen wir bloß?
Am liebsten hätte sie den Zug angehalten, um auszusteigen und nach Hause zu gehen, wo alles sicher und tröstlich war. Sie schoss beinahe von ihrem Sitz, sank aber zurück, als sie Joe mit dem für ihn typischen entschlossenen Ausdruck aus dem Fenster starren sah. Er war so stolz gewesen, als er eine Einladung von seinen Verwandten in Amerika erhalten hatte, in dessen Schreinerei einzutreten. Wie hätte sie ihn enttäuschen sollen? Mit ihm würde sie bis ans Ende der Welt gehen.
Dabei mochten sie ihr Spinnereistädtchen im Norden durchaus. Sie hatten dort beide in einer kleinen Kate am Rand des Hochmoors Unterkunft gefunden, hatten eine nützliche Ausbildung erhalten und waren zunächst in ein Dienstverhältnis, dann in die Baumwollspinnerei geschickt worden, in der sie sich kennengelernt hatten. Es war eine Jugendliebe, und sie hatten geheiratet, als Joes Lehre beendet war. May hatte jedoch schon immer gewusst, dass Joe mehr für seine Familie anstrebte, dass er sich unbedingt beweisen wollte, und sie förderte seinen Ehrgeiz gern. Wer wünschte sich nicht ein freies Leben ohne Schornsteinrauch für die Tochter, eine Chance, Menschen aus aller Welt kennenzulernen, die alles riskierten, um neu anzufangen, so wie sie? Man brauchte Mut, um die Welt, die man gekannt hatte, hinter sich zu lassen, und sie war nicht feige. Aber diese Woge der Angst beunruhigte sie noch immer. Wenn nun alles schiefging? Wenn sein Onkel George ein Tyrann war? Wenn …?
Hör auf, dir Sorgen zu machen, schalt sie sich und schaute zu den Kofferschildern hoch, die sie beschriftet und sorgfältig befestigt hatte: Mr und Mrs Joseph Smith, RMS
Titanic
, Southampton. Das wäre schon bald ihre nächste Anlaufstation.
2
Die Glocken der Kathedrale läuteten über die ganze Stadt, während die Familie sich am Westtor versammelte, um den Leichenzug anzuführen. Celestine Parkes war froh um den Schleier aus schwarzer Spitze, der ihren Kummer vor Blicken schützte, während sie sich an den Arm ihres Vaters klammerte und zusah, wie ihre Brüder den Sarg auf die Schultern hoben. Die Last dürfte nicht schwer sein, denn ihre Mutter, Louisa, war in den letzten Tagen ihrer Krankheit bis auf Haut und Knochen abgemagert.
Celeste konnte sich nicht verzeihen, so spät eingetroffen zu sein und somit die Chance, sich zu verabschieden, unwiderruflich verpasst zu haben. Stürme hatten die Ankunft des Schiffes aus New York verzögert, doch man hatte die Beerdigung so lange verschoben, bis sie schließlich im Haus der Familie in Lichfield angekommen war. Ihre einst so schöne Mutter nur noch als eine bis zum Skelett ausgezehrte Fremde zu sehen, war ein Schock für sie gewesen.
Jetzt fegte der Wind über den Kathedralenhof, abgestorbenes Laub trudelte über das Pflaster, als die Trauernden vor dem Dekan standen, der gekommen war, um sie in das widerhallende Kirchenschiff zu geleiten.
Celeste schaute zu den drei Kirchturmspitzen der Kathedrale von Lichfield empor, den
Three Ladies of the Vale
, die in einen hellen Märzhimmel aufragten. Sie warf einen Blick auf die eleganten Häuser in lachsfarbenem Sandstein, die rings um den Hof standen. Wie vertraut das alles zu Frühlingsbeginn aussah, Narzissen sprossen aus dem Gras, die schneidende Luft direkt aus den Hochmooren nahm ihr den Atem. Im
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