Schiff der tausend Träume
Paris zurückkehrte. Einige der reichsten Männer der Welt befanden sich an Bord. Grover wäre von ihren Mitreisenden beeindruckt. Sie waren eher Besucher eines Tanzballs, als eine Kirchengemeinde. Der Kapitän gab sich die größte Mühe und benutzte die Gesangsblätter des Schiffes, um einen breit gefächerten Gottesdienst abzuhalten, aber ihr Heimweh verschlimmerte sich dadurch nur.
Unwillkürlich musste sie an das gewölbte Dach der Kathedrale von Lichfield denken, an das Geläut der Glocken, das durch die Morgenluft hallte, die tiefen Bässe der Orgel, den Aufmarsch der Chorjungen in ihren rotweißen Roben und den Dekan in seiner goldenen Amtstracht.
Dieser Gottesdienst war jedoch annehmbar. Wenigstens hatte man Passagiere aus anderen Klassen zugelassen. Sie hatte eine junge Frau in der letzten Reihe gehört, die in der richtigen Stimmlage aus voller Kehle mitsang, wiewohl sie ihre Stimme rasch zurücknahm, als ihr klarwurde, dass sie nicht unter einem Zeltdach an einem evangelikalen Erweckungsgottesdienst teilnahm, sondern an einem höflichen Zeremoniell sonntäglicher Andacht. Am Ende des Gottesdienstes wurden die letzten Reihen hastig verscheucht, als wäre ihre Anwesenheit eine Störung für das Wohlbefinden der Passagiere erster Klasse. Schade, dachte Celeste lächelnd; sie hätte sich die junge Frau mit der silbernen Stimme gern näher angesehen und sich bei ihr dafür bedankt, dass sie die Qualität des Gesangs angehoben hatte, wenn auch nur für ein paar Strophen. Sie sah aus, als wäre sie eine nette Frau.
Die Reise würde ihr in Gesellschaft von Mrs Grant lang werden, und ein Roman über ein junges Mädchen, das um die Jahrhundertwende Mühe hatte, sich in die New Yorker Gesellschaft einzufügen, war dabei kaum eine aufmunternde Lektüre.
Hätte sie doch nur Gleichgesinnte bei Tisch, mit denen sie sich unterhalten könnte, nicht die übliche Mischung aus gut betuchten Reisenden, die ihre exotischen Abenteuer in Europa zum Besten gaben, berühmte Namen einstreuten wie Croutons in ihre Suppe, oder Ada Grant, die pausenlos über ihre Verwandten und deren Kinder plauderte.
Celeste fragte sich, wie es der jungen Frau mit der schönen Stimme wohl da unten im Zwischendeck ergehen mochte, und war froh, dass sie es geschafft hatte, die goldenen Tore in diesen Kokon der Verwöhnten zu durchschreiten. Was sie wohl von all diesem Luxus und den Privilegien halten mochte, die Celeste ein solches Unbehagen einflößten? Es gab viel zu viel auf diesem Schiff, das den treffenden Namen
Titanic
trug. Warum konnte sie sich nicht einfach entspannen und die Erfahrung genießen, verwöhnt zu werden? Warum fühlte sie sich so unwohl?
»Und, wie ist es denn so auf den oberen Decks?«, fragte Joe beim Mittagessen und schlürfte seine Suppe mit Appetit.
»Eine andere Welt. So etwas hast du noch nicht gesehen; riesige Flächen mit dicken Teppichen – es war, als würde man auf Wolken gehen –, und die Frauen waren angezogen wie Schaufensterpuppen, schwer behängt mit Perlen und Edelsteinen. Aber sie können für keine zwei Pennys singen.«
Joe grinste. »Ich wette, du hast es ihnen gezeigt.«
»Ich habe es versucht, aber ich wurde angestarrt und habe deshalb den Mund gehalten. Trotzdem hat es mir gefallen zu sehen, wie die andere Hälfte lebt. Wir wurden allerdings rausgeschmissen, sobald es vorbei war, damit wir uns nicht mit dem Silber davonmachen konnten. Ich bin froh, wieder hier unten zu sein.«
»Da bin ich aber erleichtert. Will ja nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst. Kann sein, dass wir in einer Blockhütte wohnen, wenn wir raus in den Westen kommen.«
»Wenigstens werden wir da draußen alle gleich sein. Wie können Leute nur so reich werden, dass sie Tausende für eine Fahrkarte ausgeben können? Ich bin mir sicher, dass sie auch nicht glücklicher sind als wir. Da war eine arme Witwe ganz in Schwarz, die aussah, als würde sie jederzeit in Tränen ausbrechen, und die war nicht älter als ich. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn dir etwas zustoßen würde. Du würdest mich doch nicht für eine reiche, schicke Amerikanerin sitzenlassen, oder?«
Joe ergriff ihre Hand und lachte. »Ich weiß nicht, wie du auf so etwas kommst, May. Du und ich, wir kleben zusammen, und das ist ein Versprechen. Wir werden niemals getrennt sein. Bis zu unserem Tod.«
6
Der Sonntag verlief für Celeste ereignislos. Ihr war nicht gut, und sie stocherte lustlos in ihrem Mittagessen herum, während die alte
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