Schiff der tausend Träume
Lederstiefelchen, die sie von einer Nachbarin geschenkt bekommen hatte, als sie gerade laufen konnte. Merkwürdig, wenn man bedachte, dass sie ihren ersten Geburtstag Tausende Meilen von ihrem Geburtsort entfernt verbringen würde.
May schaute staunend zu den Sternen auf, die den Himmel übersäten. Wo würden sie wohl nächste Woche um diese Zeit sein? »Meinst du, wir tun das Richtige?«
Joe nickte lächelnd und überging ihre Nervosität. »Bis jetzt verlief die Fahrt glatt. Wir sind in sicheren Händen.« Er zeigte zum Kapitän mit seinem charakteristischen weißen Bart, der an Deck auf und ab schritt, seine Mannschaft inspizierte und dann von seiner hohen Warte aus herüberschaute. »Er ist der beste Kapitän, sonst würde er dieses Schiff nicht auf der Jungfernfahrt kommandieren, oder? Genieße es, wir werden es im Leben nicht noch einmal machen, nicht wahr?«
4
Celestine schaute durch ihren schwarzen Schleier zu dem Schiff auf, das sie wieder zurück nach Amerika bringen sollte. Ihre Schuhe fühlten sich bleischwer an, als sie über die Gangway für die erste Klasse schritt. Ihr Bruder eilte voran und konnte es kaum erwarten, das transatlantische Linienschiff vom Bug bis ans Heck zu inspizieren.
»Warte auf mich!«, rief sie.
Selwyn drehte sich um und grinste jungenhaft. »Komm schon, du lahme Ente, ich will endlich sehen, warum so ein verdammtes Tamtam um diese
Titanic
gemacht wird, und Vater möchte, dass du das alte Schätzchen kennenlernst, die Tante des Erzdiakons …«
»Meine Anstandsdame. Mal ehrlich, kann eine verheiratete Frau nicht ohne eine Aufpasserin an Bord gelassen werden? Ich hoffe, Mrs Grant ist nicht so furchtbar wie die, mit der ich hierhergekommen bin. Sie sah doch, dass ich mir um Mama Sorgen machte, aber sie hat während der ganzen Reise auf mich eingeredet.«
»Grover hat hartnäckig darauf bestanden, dass du nicht ohne Begleitung reisen sollst«, erwiderte Selwyn. »Aber warum er dich nicht begleiten konnte, ist mir zu hoch. Wir alle wollten auch den kleinen Roddy kennenlernen. Unsere arme Mama hat ihn nie zu sehen bekommen …«
»Ich weiß, aber mein Gatte ist ein vielbeschäftigter Mann.«
»Es ging um die Beerdigung deiner Mutter, um Himmels willen! Auf der Reise hierher hättest du ein bisschen Unterstützung gebrauchen können, besonders unter den Umständen.« Selwyn nannte die Dinge immer gern beim Namen. Auch ein Zug, den Celestine an ihm mochte.
»Ihr habt euch alle so lieb um mich gekümmert. Mir geht es gut. Natürlich hätte ich gern meine eigene Familie bei mir gehabt, aber Grover sagte, Beerdigungen seien nichts für Kinder.«
»Er hätte sich ein bisschen bemühen können, Schwesterherz.«
»Ich weiß … es ist nur …« Wie sollte sie erklären, dass Grover sich nicht besonders für England oder ihre Familie interessierte? Er hatte seine eigenen Eltern in der Nähe und bestand darauf, dass Roddys Tagesablauf nicht durcheinandergebracht werden durfte. Ihr einziger Gedanke war jetzt, zu ihrem Sohn zurückzukehren und ihren Alltag wieder aufzunehmen, und dafür musste sie diesem Riesenwal auf den Rücken steigen, um nach Westen zu ziehen, zu ihrem Wohnsitz in Akron, Ohio.
Selwyn half ihr, sich in ihrer Kabine einzurichten, und sorgte dafür, dass sie nicht gestört wurde. Wenn die Reise so schlimm wie ihre Hinfahrt vor fünf Wochen würde, hätte sie eine mühevolle Zeit vor sich und würde sich hauptsächlich in ihrer Kabine aufhalten.
Ein Kohlestreik hatte die Auslaufpläne für die Schiffe durcheinandergebracht, und man hatte ihr für ihre Rückreise nach New York eine Ersatzkoje auf der
Titanic
gegeben. Sie hätte begeistert sein sollen, an der Jungfernfahrt mit all dem Rummel in Southampton teilnehmen zu können, doch da sie ihre Angehörigen zurückließ, war ihr das Herz schwer. Sie fragte sich, wann sie ihre Familie wiedersehen würde. Falls sie ihren Vater überhaupt je wiedersah. Er hatte so hinfällig gewirkt, so gebrochen nach dem Tod ihrer Mutter.
Die Unterkünfte der ersten Klasse befanden sich auf den oberen Decks; Suiten und Einzelkabinen waren durch Gänge verbunden, die dick mit Plüschteppichen ausgelegt waren. Ihre Kabine war mit elektrischen Lampen gut ausgeleuchtet, und sie hatte ein Messingbett mit feinen weichen Laken und einer Daunendecke. Die Wände waren mit Velourstapeten verkleidet, wie in einem feinen Hotelzimmer, überall standen frische Blumen. Der Duft von Lilien, Freesien und Jasmin aus dem Treibhaus überdeckte
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