Schiff der tausend Träume
Celeste lachend. »Jetzt werde ich nicht schlafen.«
»Bestimmt, das kann ich Ihnen versichern – nichts ist besser als eine reichhaltige Mahlzeit, frische Luft und die Musik von Mr Hartleys Band in den Ohren, um Sie in den Schlaf zu wiegen.«
Tatsächlich nickte Celeste ein, wurde aber gegen Mitternacht wach, da ihr Magen gegen ihre Völlerei aufbegehrte. Sie spürte einen kleinen Schauder, ein Schütteln, einen Stoß, immerhin so stark, dass ihr Wasserkrug aus Kristall rappelte und ihr Trinkglas über die Mahagonifläche rutschte. Dann schien die Maschine ruckelnd zum Stillstand zu kommen, wie ein Zug, der in einen Bahnhof einfährt. Träumte sie noch? Sie drehte sich auf die andere Seite, verärgert darüber, geweckt worden zu sein, und sank wieder in den Schlaf. Plötzlich waren Geräusche im Gang zu hören, keine Nachtschwärmer, sondern schnelle Schritte und das Echo von Türen, die hastig auf- und zugeschlagen wurden. Auf der Stelle war sie hellwach.
»Was ist los?«, rief sie hinaus, wickelte ihren japanischen Seidenkimono über ihr Nachthemd und öffnete die Tür. Sie dachte an die schwerhörige Mrs Grant am Ende des Flurs. Ob sie wusste, was vor sich ging?
»Das Schiff hat einen Eisberg gerammt«, schrie jemand.
»Nein! Überhaupt nicht … keine Panik«, rief dieselbe Stewardess, die ihr Stunden zuvor beim Auskleiden geholfen hatte. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, aber wir möchten Sie bitten, hinauf an Deck zu gehen, nur als Vorsichtsmaßnahme. Ziehen Sie sich warm an und nehmen Sie auch ihre Rettungswesten mit. Ich werde Ihnen helfen, wenn Sie nicht drankommen.«
Celeste warf sich ihre blaue Jacke über, zog ihren Rock über das Nachthemd, holte ihren dicken Mantel und ihre Pelzstola hervor und streifte ihre Stiefel über. Ohne nachzudenken nahm sie ihre Handtasche, ein Foto von Roddy und die Ringe, die Grover ihr geschenkt hatte. Alles andere konnte warten, bis sie wieder zurückkam.
Sie folgte einer Reihe hastig angekleideter Passagiere und fragte sich, wohin man sie wohl führen mochte. Sie hatte überhaupt nichts gespürt, was auf einen Zusammenprall schließen lassen könnte, doch plötzlich waren die Gänge gesäumt von Stewarts, die ihnen den Weg zum Bootsdeck wiesen. Was um alles in der Welt ging da vor? Warum störte man sie mitten in der Nacht? Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Angst zusammenkrampfte. Konnte das Undenkbare womöglich Wirklichkeit werden? War es nur eine Sicherheitsübung oder etwas weitaus Ernsthafteres?
7
May hatte noch nie einen so fröhlichen Sonntagabend verbracht. Ihre Füße hatten zum Takt der Musik im Salon gewippt, sie hörte Akkordeons, Banjos, das Klappern von Holzschuhen und Stiefeln auf dem Holzboden, sah Paare, die zu unbekannten Rhythmen herumwirbelten, während Kinder wie in jedem beliebigen Gemeindesaal über den Boden rutschten und allen im Weg waren.
Sie und Joe unternahmen vor dem Schlafengehen einen Spaziergang an Deck, um die vielen Sterne zu betrachten, aber es war zu kalt, um lange draußen zu bleiben, besonders mit einem schlafenden Kleinkind an Joes Schulter.
»Was für ein weiter Sternenhimmel! Schau, der Gürtel des Orion«, sagte Joe und deutete auf eine Formation aus blinkenden Sternen. »Und da ist der Polarstern, nach dem die Seeleute sich besonders richten. Hast du dich jetzt ein bisschen mehr entspannt, Schatz?«
»Ein bisschen, aber lass uns wieder reingehen. Jetzt haben wir wieder einen Abend geschafft«, erwiderte May. Sie konnte es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. So schnell würde sie wohl nicht wieder mit einem Schiff fahren.
»Ich möchte keine Minute dieser Reise missen«, rief Joe. »Wer hätte das gedacht, du und ich auf hoher See? Nicht für alle Reichtümer dieser Erde möchte ich es missen.«
»Ich hoffe, wir bereuen es nicht«, entgegnete sie finster.
»Was soll das denn heißen? Willst du es dir anders überlegen und weggehen?«
»Natürlich nicht … aber eine ganze Woche auf See. Das ist zu lang, zu kalt und zu weit vom Land entfernt.« So sehr sie sich auch mühte, es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sei sie nicht mehr nervös. Sie wusste, der schlimmste Teil der Reise stand noch bevor. In der Bar war von Eisbergen und von turmhohen Wellen die Rede gewesen. Wildes Geschwätz, befeuert von Alkohol, das war May klar, aber sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass in all den Erzählungen ein Körnchen Wahrheit stecken musste.
»Wo ist deine Abenteuerlust
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