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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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zog ihren Mantel fest um sich.
    »Sieh doch selbst, das Wasser ist tief genug, um sie oben zu halten. Die
Titanic
ist nagelneu, und wir haben das Glück, mit ihr zu fahren. In den Zeitungen steht, ihre dritte Klasse ist so gut wie die erste auf anderen Schiffen. Es heißt, sie hat alle Sicherheitsvorkehrungen, die man sich nur denken kann. Sie ist unsinkbar. Mach dir keine Sorgen, May.«
    Ihre Fahrkarten wurden überprüft, und ein bebrillter Mann in weißem Mantel untersuchte sie auf Anzeichen von Fieber und nach Läusen, was May höchst beschämend fand. Sie hätten sie bis auf ihr Hemd ausziehen können und nichts außer sauberer Lancashire-Baumwolle gefunden.
    Von Stewarts geführt, folgten sie der Schlange auf das C-Deck. Unwillkürlich wurde May von Angst erfasst, als sie durch ein Gewirr von Gängen immer tiefer in das Schiff hinabstiegen. Sie hatte nie viel für Wasser übrig gehabt, nicht einmal eine Bootsfahrt auf dem See in Queens Park hatte ihr Spaß gemacht, obwohl Joe sie gezwungen hatte, in den Becken von Belmont platschend und unter Protest schwimmen zu lernen. Sie hatte das Wasser in Nase und Augen verabscheut und sich nach Kräften bemüht, den Kopf oben zu halten.
    Unten im Innern des Schiffes wurden sie zu einer sauberen, holzvertäfelten Kabine mit Kojen geführt, eine von vielen an einem mit Linoleumfliesen belegten Gang zwischen Stahlwänden, der jetzt so breit wie eine Hauptstraße war. Der Durchgang war mit lärmenden Familien überfüllt, rennenden Kindern, die sich in einem Gewirr aus fremden Sprachen aufgeregt etwas zuriefen. Eigenartige Aromen hingen in der Luft: Gewürze, Tabakrauch, Schweiß, das alles vermischt mit dem Geruch nach frischer Farbe.
    In der Kabine setzte sich May auf die Koje und überprüfte instinktiv die Größe. »Schon mal eine passende Matratze«, stellte sie fest. Alles war neu: die Laken, die Handtücher, der Bodenbelag. »Ich kriege hier drinnen keine Luft«, sagte sie. »Es ist sauber, aber …« Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie sieben Nächte so verbringen sollte, eingepfercht in diesem Raum, der einer Holzkiste ähnelte, so sauber er auch sein mochte. Er roch wie ein Sarg. Sie schauderte erneut und warf dann einen Blick auf Ellen, die zufrieden über den Boden kroch und alles inspizierte. Noch so eine, die Lust auf Abenteuer hatte. Sie musste sich zusammenreißen. Immerhin waren sie nicht gezwungen, sich die Kabine mit Fremden zu teilen.
    »Also gut.« Sie erholte sich. »Dann wollen wir an Deck gehen. Wenn ich frische Luft bekomme, geht es mir gleich besser.«
    Während sie sich durch ein Labyrinth aus Gängen und Treppen schlängelten, betrachtete May bewundernd die Schiffsquartiere und vergaß darüber beinahe ihre Bedenken. »Es ist wie eine Stadt«, rief sie und spähte in jeden freien Raum. Ein riesiger Speisesaal war zu sehen, mit langen Holztischen und stabilen Kapitänsstühlen, ähnlich denen in der Sakristei der Kirche. Die Böden waren mit gemustertem Linoleum ausgelegt, das noch nach Klebstoff roch. Irgendwo oben befand sich ein Rauchersalon, doch hier war ein großer Salon mit bequemen Lehnsesseln und einem Klavier in der Ecke. Alles war auf Hochglanz poliert und schimmerte, an den Wänden hingen gerahmte Bilder, in den Ecken standen Topfpflanzen. Kein Staubkörnchen war zu sehen. Das alles war höchst zufriedenstellend, und trotzdem … Sie kam nicht gegen das Gefühl an, dass es viel zu groß war und sie viel zu tief unter der Wasserlinie untergebracht waren.
    Joe trug Ellen durch Gänge und über Treppen auf der Suche nach einem freien Platz an Deck, wo sie die Möwen sehen konnten. »Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir ablegen«, rief er, und May sah ihm die Aufregung an. Sie drehte sich um und beobachtete andere Passagiere, die mit Umarmungen Abschied von Verwandten nahmen, wobei sie einen Anflug von Neid verspürte. Sie und Joe hatten kaum einen Blutsverwandten. All ihre Hoffnungen ruhten auf »Onkel« George in Idaho. So glücklich ihre kleine Familie auch war, es wäre schön gewesen, das Gefühl zu haben, zu etwas Größerem zu gehören.
    Eigenartig, wenn man bedachte, dass sie England vielleicht nie wieder beträten, nie mehr den Union Jack flattern sähen oder die Leute in Lancashire hörten, die sich in ihrem Dialekt auf den Bürgersteigen etwas zuriefen. Wo würde sie eine anständige Tasse Tee finden? Sie hatte gehört, dass man in den Staaten nur Kaffee trank. Joe zeigte Ellen Schiffe an anderen Liegeplätzen,

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