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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Himmel war am helllichten Tag so schwarz wie sonst in der Nacht. Es goss in Strömen. Von ferne hörte ich Donner. Ich dachte, dabei würde es auch bleiben. Dann aber frischte der Wind auf und peitschte den Regen kreuz und quer. Gleich darauf fuhr ein grellweißer Keil vom Himmel herab und bohrte sich in das Wasser. Er schlug in einiger Entfernung ein, doch der Effekt war deutlich zu sehen. Eine Art weißes Wurzelwerk durchzog das Wasser; für kurze Zeit ragte ein riesiger Himmelsbaum aus dem Ozean. Das hatte ich nie für möglich gehalten: ein Blitzeinschlag im Meer. Der nachfolgende Donner war gewaltig. Der Blitz unvorstellbar hell.
    Ich drehte mich zu Richard Parker um und sagte: »Sieh nur, Richard Parker, ein Blitz.« Es war deutlich genug, was er davon hielt. Er lag mit ausgestreckten Beinen flach auf dem Boden und zitterte.
    Auf mich hatte das Ereignis genau die gegenteilige Wirkung. Es war etwas, das mich aus meinem eng begrenzten Dasein riss und in einen Zustand verzückten Staunens versetzte.
    Plötzlich schlug ein Blitz unmittelbar neben uns ein. Vielleicht war er für uns bestimmt: Wir hatten gerade eine Welle überwunden und waren wieder auf dem Weg nach unten, als der Wellenkamm getroffen wurde. Es war wie eine Explosion, eine Wolke von heißer Luft und heißem Wasser. Zwei, vielleicht drei Sekunden lang tanzte ein riesengroßer, leuchtender Splitter von einer zerborstenen kosmischen Fensterscheibe am Himmel, körperlos und doch überwältigend kraftvoll. Zehntausend Trompeter und zwanzigtausend Trommler hätten nicht einen solchen Lärm machen können wie dieser Blitzschlag; er klang noch lange in den Ohren nach. Die See war gleißend hell, und sämtliche Farben verschwanden. Es gab nur noch schneeweißes Licht oder pechschwarzen Schatten. Das Licht strahlte die Dinge nicht an, es durchdrang sie. Ebenso schnell wie er aufgetaucht war, verschwand der Blitz - die heiße Gischt schwebte noch in der Luft, da war bereits alles vorbei. Die getroffene Welle hatte wieder die alte Farbe und setzte ihre Reise fort, als sei nichts geschehen.
    Ich saß wie gelähmt, gebannt vom Donnerschlag. Aber Angst hatte ich keine.
    »Lob und Preis sei Allah, dem Herrn aller Weltenbewohner, dem gnädigen Allerbarmer, der da herrscht am Tag des Gerichts!«, murmelte ich. Und Richard Parker rief ich zu: »Fürchte dich nicht! Es ist ein Wunder. Ein Zeichen Gottes. Es ist ... es ist ...« Ich fand keine Worte, es zu beschreiben, dieses gewaltige, phantastische Etwas. Ich war atemlos und sprachlos. Ich lehnte mich zurück auf die Plane, die Arme und Beine gespreizt. Der Regen war eiskalt. Doch ich lächelte. Um Haaresbreite war ich dem tödlichen Stromschlag, den schwersten Verbrennungen entgangen, aber es war einer der wenigen Momente meiner langen Reise, in denen ich wirklich glücklich war.
    In solchen Augenblicken des Wunders ergeben sich die großen, weltumspannenden Gedanken ganz von selbst, Gedanken, die den Donnerschlag und das Wimmern einschließen, das Große und das Kleine, Nah und Fern.

Kapitel 86
    »Richard Parker, ein Schiff!«
    Einmal hatte ich das Vergnügen und konnte das tatsächlich rufen. Ich war überwältigt vor Glück. Aller Schmerz, alle Enttäuschung waren wie weggeblasen, jede Faser in mir jubilierte.
    »Wir haben es geschafft! Wir sind gerettet! Hörst du, was ich sage, Richard Parker? WIR SIND GERETTET ! Ha, ha, ha, ha!«
    Ich versuchte meine Aufregung im Zaum zu halten. Was, wenn das Schiff so weit ab blieb, dass niemand uns sah? Ob ich eine Signalrakete schießen sollte? Unsinn!
    »Sie kommen zu uns her, Richard Parker! O Gott Ganesha, ich danke dir! Gesegnet seist du in all deinen Erscheinungen, Allah-Brahman!«
    Unmöglich, dass sie uns übersahen. Konnte es ein größeres Glück geben als das Glück der Errettung aus der Not? Die Antwort - das versichere ich - lautet Nein. Ich stellte mich aufrecht hin, das erste Mal seit langem, dass ich mir die Mühe machte.
    »Ist das zu glauben, Richard Parker? Menschen, Essen, ein Bett. Wir kehren ins Leben zurück. Welche Glückseligkeit!«
    Das Schiff kam immer näher. Allem Anschein nach war es ein Öltanker. Man konnte schon den Bug sehen. Der Retter kam in Schwarz, mit weißen Zierlinien.
    »Und was, wenn ...?«
    Ich wagte nicht, es zu sagen. Aber gab es denn nicht vielleicht doch Hoffnung, dass Vater und Mutter und Ravi noch am Leben waren? Die
Tsimtsum
hatte doch schließlich mehr als nur das eine Rettungsboot gehabt. Vielleicht waren sie schon vor

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