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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Lethargie. Aber das Traumtuch verlieh diesem Dämmerzustand eine ganz besondere Qualität. Es lag wohl daran, dass es die Sauerstoffzufuhr drosselte. Jedenfalls verhalf es mir zu wahrhaft außergewöhnlichen Träumen, Trancezuständen, Visionen, Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen. Und die Zeit verging wie im Flug. Wenn ein Zucken oder ein zu tiefer Atemzug mich störte und das Tuch herunterrutschen ließ, kam ich wieder zu mir, glücklich, dass so viel Zeit vergangen war. Ein Beweis dafür war die Trockenheit des Tuches. Aber mehr noch das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte, dass der gegenwärtige Augenblick anders war als der gegenwärtige Augenblick zuvor.

Kapitel 88
    Einmal schwamm Müll vorbei. Erste Anzeichen waren schillernde Öllachen auf dem Wasser. Wenig später kamen Haus- und Industrieabfälle: überwiegend Kunststoffmüll in den unterschiedlichsten Formen und Farben, aber auch Holz, Bierdosen, Weinflaschen, Stoffreste, Seilstücke, alles umgeben von einem gelblichen Schaumkranz. Wir steuerten mitten hinein. Ich wollte nachsehen, ob etwas Nützliches dabei war, und fischte eine leere Weinflasche mit Korken heraus. Das Rettungsboot stieß gegen einen Kühlschrank, der seinen Motor verloren hatte. Er dümpelte mit der Tür nach oben im Wasser. Ich streckte die Hand aus, packte den Griff und öffnete die Tür. Der Gestank, der mir entgegenschlug, war so ekelerregend, dass ich das Gefühl hatte, selbst die Luft hätte sich davon verfärbt. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und sah hinein. Der Kühlschrank war innen voller Schimmelflecke und brauner Flüssigkeit und enthielt neben allerlei verfaultem Gemüse und verdorbener Milch, die schon zu einer grünen, gallertartigen Masse geronnen war, vier Teile eines Tierkadavers in einem so fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, dass ich nicht mehr sagen konnte, was es war. Der Größe nach zu urteilen war es wohl ein Lamm gewesen. In der abgeschlossenen, feuchten Atmosphäre des Kühlschranks hatte der Gestank in aller Ruhe reifen können und war so widerlich und beißend, dass er meine Sinne mit einer aufgestauten Wut attackierte, von der mir schwindelte; der Magen drehte sich mir um und meine Knie wurden weich. Zum Glück füllte die See den übelriechenden Hohlraum bald aus, und das ganze Ding verschwand unter der Wasseroberfläche. An der Lücke, die der versunkene Kühlschrank hinterließ, schwamm schon bald anderer Unrat.
    Wir ließen den Müll hinter uns. Ich konnte ihn noch lange riechen, wenn der Wind aus dieser Richtung wehte. Die See brauchte einen ganzen Tag, um die ölverschmierten Seiten des Rettungsboots wieder reinzuwaschen.
    Ich steckte eine Botschaft in die Flasche: »Japanischer Frachter
Tsimtsum
unter Panamaflagge, gesunken 2 .Juli 1977 , Pazifik, vier Tagesreisen von Manila. Sitze im Rettungsboot. Name Pi Patel. Habe etwas Nahrung, etwas Wasser, aber bengalischer Tiger ein ernstes Problem. Bitte Familie in Winnipeg, Kanada, benachrichtigen. Hilfe sehr erwünscht. Danke.« Ich verschloss die Flasche mit dem Korken und zog ein Stück Plastik darüber, das ich mit Nylonschnur am Flaschenhals befestigte. Dann schleuderte ich die Flasche ins Wasser.

Kapitel 89
    Alles löste sich auf. Alles wurde von der Sonne gebleicht und vom Wetter gegerbt. Das Rettungsboot, das Floß, bis es dann ganz verlorenging, die Plane, die Destillen, die Regensammler, die Plastiksäcke, die Leinen, die Decken, das Netz - alles wurde fadenscheinig, ausgeleiert, schlaff, rissig, trocken, morsch, zerschlissen, farblos. Was einst orange war, verblasste zu einem weißlichen Gelb. Was glatt war, wurde rau. Was rau war, wurde glatt. Was scharf war, wurde stumpf. Was ganz war, hing in Fetzen. Da half es auch nichts, dass ich alles mit Fischhäuten und Schildkrötenfett einrieb, um die Sachen ein wenig geschmeidig zu halten. Das Salz fraß unerbittlich weiter, Millionen hungriger Mäuler. Und die Sonne verbrannte alles. Immerhin hielt sie Richard Parker in Schach, zeitweise zumindest. Sie reinigte Skelette und bleichte sie aus zu strahlendem Weiß. Sie brannte mir die Kleider vom Leib und hätte mir auch die Haut noch versengt, obwohl sie so dunkel war, hätte ich mich nicht mit Decken und Schildkrötenpanzern geschützt. Sobald die Hitze unerträglich wurde, nahm ich einen Eimer und übergoß mich mit Meerwasser; manchmal war das Wasser so warm, dass es sich anfühlte wie Sirup. Die Sonne vertrieb auch sämtliche Gerüche. Ich kann mich jedenfalls an keinen Geruch

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