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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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erinnern. Nur an den der abgebrannten Signalfackeln. Habe ich schon erzählt, dass sie nach Kreuzkümmel rochen? Ich weiß nicht einmal mehr, wie Richard Parker roch.
    Wir siechten dahin. Es ging ganz langsam, so langsam, dass es mir nicht immer bewusst war. Aber es fiel mir doch auf. Wir waren zwei ausgemergelte Säuger, vertrocknet und verhungert. Richard Parkers Fell hing matt und schlaff an Schultern und Hüfte. Er hatte sehr abgenommen, nur noch ein Knochengerüst in einem viel zu großen Sack aus schütterem Fell. Auch ich schwand zusehends; alle Feuchtigkeit war aus meinem Körper gewichen, die Knochen zeichneten sich durch die Haut deutlich ab.
    Ich nahm mir an Richard Parker ein Beispiel und schlief die meiste Zeit. Es war kein echter Schlaf, eher ein halbwacher Dämmerzustand, in dem Tagträume und Wirklichkeit kaum noch zu unterscheiden waren. Mein Traumtuch leistete mir gute Dienste.
    Dies sind die letzten Seiten aus meinem Tagebuch:
    Heute der größte Hai bisher. Urtümlich, bestimmt zwei Meter lang. Gestreift. Ein Tigerhai - sehr gefährlich. Umkreiste uns. Fürchtete schon, er würde angreifen. Hatte den einen Tiger überlebt, jetzt würde ich vom anderen gefressen. Griff nicht an. Schwamm davon. Wolkiges Wetter, aber kein Regen.
     
    Trocken. Nur Morgendunst. Delphine. Wollte einen fangen. Konnte mich nicht auf den Beinen halten. R. P. schwach und missgelaunt. Bin so schwach, könnte mich nicht verteidigen, wenn er angreift. Keine Kraft mehr, die Pfeife zu blasen.
    Windstiller, glutheißer Tag. Sonne brennt gnadenlos. Als ob das Gehirn in meinem Schädel kocht. Fühle mich schrecklich.
     
    Körper und Seele am Boden zerstört. Werde bald sterben. R. P. atmet, aber bewegt sich nicht. Wird auch sterben. Wird mich nicht töten.
     
    Erlösung. Eine Stunde lang heftiger, köstlicher, wunderbarer Regen. Füllte Mund, füllte Säcke und Dosen, trank bis kein Tropfen mehr hineinpasste. Ließ mich nassregnen, um Salz abzuwaschen. Kroch hinüber zu R. P. Reagierte nicht. Körper zusammengerollt, Schwanz am Boden. Fell nass und ungepflegt. Wirkt kleiner wenn nass. Knochig. Habe ihn zum ersten Mal berührt. Wollte wissen, ob er tot ist. Nicht tot. Körper noch warm. Seltsames Gefühl, die Berührung. Sogar jetzt noch fest, muskulös, lebendig. Berührte ihn, und er schauderte, als liefe eine Mücke über sein Fell. Schließlich hob er den Kopf, halb im Wasser. Lieber trinken als ertrinken. Noch besseres Zeichen: Schwanz zuckte. Warf ihm Schildkrötenfleisch vor. Nichts. Richtete sich endlich halb auf - um zu trinken. Trank und trank. Fraß. Richtete sich nicht ganz auf. Leckte sich eine gute Stunde lang am ganzen Körper. Schlief.
     
    Es ist sinnlos. Heute sterbe ich.
     
    Heute werde ich sterben.
     
    Ich sterbe.
    Das war mein letzter Eintrag. Ich starb dann doch nicht, ich hielt auch weiterhin durch, aber ich schrieb nichts mehr. Hier, die Abdrücke, unsichtbare Kringel auf den Rändern der Seiten. Ich hatte immer befürchtet, mir würde das Papier ausgehen. Stattdessen hatten die Kugelschreiber keine Tinte mehr.

Kapitel 90
    »Fehlt dir etwas, Richard Parker?«, fragte ich und fuhr mit der Hand vor seinem Gesicht auf und ab. »Bist du blind geworden?«
    Seit ein oder zwei Tagen hatte er sich die Augen gerieben und unglücklich miaut, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht. Schmerz und Leid waren ja für uns die einzige Ration, die immer reichlich vorhanden war. Ich fing eine Dorade. Seit drei Tagen hatten wir nichts mehr gegessen. Am Tag zuvor war eine Schildkröte vorbeigekommen, aber ich hatte nicht die Kraft gehabt, sie an Bord zu ziehen. Ich teilte den Fisch in zwei Hälften. Richard Parker blickte in meine Richtung. Ich warf ihm seinen Anteil zu. Ich hatte erwartet, dass er ihn elegant auffing. Er flog ihm mitten ins Gesicht. Er suchte den Boden ab. Er schnüffelte links und rechts, schließlich fand er ihn und machte sich langsam darüber her. Wir waren beide bedächtige Esser geworden.
    Ich untersuchte seine Augen. Sie sahen nicht anders aus als am Tag zuvor. Vielleicht waren sie ein wenig stärker verklebt in den Ecken, aber es war nichts Dramatisches, jedenfalls gewiss nicht so dramatisch wie seine Erscheinung insgesamt. Wir waren beide nur noch Haut und Knochen.
    Aber die bloße Tatsache, dass ich ihm ins Gesicht blickte, war ja schon die Antwort auf meine Frage. Ich starrte ihm in die Augen wie ein Augenarzt, und er blickte nur ausdruckslos zurück. Eine Wildkatze konnte nur blind sein, wenn

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