Schiffbruch Mit Tiger
der Wildnis, wo daran stets Mangel herrscht. Überlegen Sie doch: Würden Sie nicht auch lieber im Ritz leben, Zimmerservice und medizinische Versorgung kostenlos, statt auf der Straße, wo keiner sich um Sie kümmert? Aber Tiere können keine solchen Entscheidungen fällen. Sie nehmen, was sie finden, und richten sich damit ein, so gut es ihre Natur erlaubt.
Ein guter Zoo hat gute Demarkationslinien: Genau da, wo ein Tier uns mit seinem Urin oder sonst einem Sekret zu verstehen gibt: »Bleib draußen!«, sagen wir mit unseren Zäunen zu ihm: »Bleib drin!« Mit einem solchen Burgfrieden sind die Tiere stets zufrieden, und man kann entspannt einen Blick aufeinander werfen.
In der Fachliteratur finden sich massenhaft Berichte über Tiere, die die Möglichkeit hatten zu fliehen und die trotzdem geblieben sind oder die entflohen und zurückkehrten. Da ist zum Beispiel der Fall des Schimpansen, dessen Käfigtür unverschlossen geblieben war und sich geöffnet hatte. Der Affe geriet mehr und mehr in Panik, schrie laut und schlug - jedes Mal mit einem ohrenbetäubenden Knall - immer wieder die Tür zu, bis ein Besucher den Wärter holte, der die Ordnung wiederherstellte. In einem europäischen Zoo wurde einmal das Gatter zu einem Wildgehege offen gelassen, und ein Rudel Rehe entwich. Aus Furcht vor den Besuchern flohen sie in einen nahe gelegenen Wald, der einen eigenen Rehbestand hatte und weitere Tiere hätte ernähren können. Trotzdem kehrten die Zootiere schon bald in ihr Gehege zurück. In einem anderen Zoo ging ein Arbeiter frühmorgens zu seiner Baustelle, ein Bündel Bretter auf der Schulter, als zu seinem Schrecken aus dem Morgennebel ein Bär auftauchte und direkt auf ihn zukam. Der Mann ließ die Bretter fallen und lief um sein Leben. Die Zoobelegschaft machte sich sogleich auf die Suche nach dem entlaufenen Bären. Sie fand ihn in seiner Grube, wohin er über den umgestürzten Baum, der ihn auch in die Freiheit geführt hatte, zurückgeklettert war. Vermutlich hatte der Lärm der zu Boden prasselnden Bretter ihn erschreckt.
Aber ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Ich will Ihnen die Zoos nicht anpreisen. Schließen Sie sie alle, wenn Sie wollen (und lassen Sie uns hoffen, dass das, was vom Tierleben noch bleibt, in dem überleben kann, was von der Natur noch bleibt). Ich weiß, die Menschen mögen keine Zoos mehr. Und keine Religion. Beide sind einem Trugbild, einer falschen Idee von Freiheit zum Opfer gefallen.
Den Zoo von Pondicherry gibt es nicht mehr. Seine Gruben sind mit Erde zugeschüttet, die Käfige niedergerissen. Wenn ich ihn heute besuche, dann besuche ich ihn am einzigen Ort, der ihm geblieben ist-in meiner Erinnerung.
Kapitel 5
Die Geschichte mit meinem Namen ist noch nicht zu Ende. Wenn jemand Bob heißt, dann fragt keiner: »Wie schreibt sich das?« Bei Piscine Molitor Patel ist das anders.
Manche glaubten, der Vorname heiße P. Singh; sie schlossen daraus, dass ich Sikh bin und fragten, wo mein Turban sei.
In Studientagen bin ich einmal mit Freunden nach Montreal gefahren. Abends wurde Pizza bestellt, und einmal war ich damit an der Reihe. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass wieder einer von den Frankokanadiern losprustete, wenn ich meinen Namen sagte, und als der Mann vom Pizzaservice am Telefon fragte: »Ihren Nam' bitte?«, antwortete ich auf Englisch: »I am who I am«, ich bin, wer ich bin. Eine halbe Stunde darauf kamen zwei Pizzas, adressiert an »Ian Hoolihan«.
Eine Weisheit sagt, dass Menschen, denen wir begegnen, uns verändern, und manchmal verändern sie uns so sehr, dass wir danach nicht mehr dieselben sind, ja nicht einmal mehr denselben Namen haben. Denken Sie an Simon, der zum Petrus wird, Matthäus, der einmal Levi hieß, Nathaniel, der sich zum Bartholomäus wandelte, Judas -nicht Ischariot —, der den Namen Thaddäus annahm; Simeon hatte einmal Niger geheißen, und Saulus wurde zum Paulus.
Mein römischer Soldat stand eines Morgens, als ich zwölf Jahre alt war, auf dem Schulhof. Ich war eben eingetroffen, und ein Geistesblitz des Bösen fuhr ihm durch seinen dumpfen Verstand. Er hob den Arm, zeigte mit dem Finger auf mich und brüllte: »He, da ist
Pisser
Patel!«
Im nächsten Augenblick lachten alle. Es verebbte, als wir zum Unterrichtsbeginn Aufstellung nahmen. Ich trat als Letzter in die Klasse, auf dem Haupt meine Dornenkrone.
Jeder weiß, wie grausam Kinder sind. Immer wieder drangen unerwartet, unvorbereitet die Worte über den Schulhof zu
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