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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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mir: »Ich muss mal. Wo ist denn hier für Pisser?« Oder: »Du stehst ja da an der Wand wie 'n Pisser.« Oder sonst etwas in dieser Art. Ich stand da wie erstarrt oder machte im Gegenteil umso beflissener mit dem weiter, womit ich gerade beschäftigt war, und tat, als hätte ich nichts gehört. Der Klang verschwand, aber der Schmerz blieb, so wie es weiter nach Pisse riecht, wenn sie schon längst getrocknet ist.
    Selbst die Lehrer machten mit. Es muss die Hitze gewesen sein. Als der Tag voranschritt, weitete sich die Erdkundestunde, die am Morgen kompakt wie eine Oase begonnen hatte, zur Wüste Thar; die Geschichtsstunde, so lebendig, als der Tag noch jung war, trocknete ein; die Mathematikstunde, die so präzise ihren Anfang nahm, verlief im Sande. In der Erschöpfung des Nachmittags, als sie sich Stirn und Nacken mit ihren Taschentüchern wischten, vergaßen selbst die Lehrer, die mir nichts Böses, nicht einmal einen Lacher ernten wollten, das Versprechen des kühlen Nass, das mein Name war, und sprachen ihn aus schierer Trägheit auf seine beleidigende Weise aus. Es waren kaum wahrnehmbare Veränderungen der Laute, aber ich hörte sie doch. Ihre Zungen waren wie antike Wagenlenker, denen die Pferde durchgingen. Die erste Silbe, das
Pi,
bewältigten sie noch gut, aber dann wurde die Hitze zu groß, sie ließen den Rössern, die mit schäumendem Maul dahinstoben, die Zügel schießen, und es gelang ihnen nicht mehr, sie durch die zweite Silbe, das
scine,
zu steuern. Das Wort verlief sich, war kaum noch mehr als ein se, und schon war der Schaden angerichtet. Ich meldete mich, wollte eine Antwort geben, und wurde mit einem »Ja, Pisser?« drangenommen. Oft merkten die Lehrer überhaupt nicht, was sie da gerade gesagt hatten. Sie warteten, dann sahen sie mich fragend an, weil keine Antwort kam. Und manchmal war die ganze Klasse so niedergedrückt von der Hitze, dass keiner mehr reagierte. Kein Kichern, kein Lächeln. Aber ich hörte die Demütigung doch.
    Mein letztes Jahr an der Sankt-Joseph-Schule verbrachte ich wie der verfolgte Prophet Mohammed in Mekka, Friede sei mit ihm. Doch so wie er seine Flucht nach Medina plante, die Hedschra, die zum Anfang der muslimischen Zeitrechnung werden sollte, so plante ich meinen Schulabgang als den Beginn einer neuen Ära.
    Als ich die Joseph-Schule hinter mir hatte, ging ich aufs Petit Seminaire, die beste englischsprachige Privat-Oberschule in Pondicherry. Ravi war schon dort, und wie jeder jüngere Bruder hatte ich es schwer, als ich in die Fußstapfen des erfolgreichen älteren trat. Er war am Petit Seminaire der beste Sportler seiner Generation, ein perfekter Ball- und ein gefürchteter Schlagmann, Captain der besten Cricketmannschaft der Stadt, der Kapil Dev von Pondicherry. Dass ich schwimmen konnte, rührte keinen; es ist anscheinend ein Naturgesetz, dass Leute, die am Meer wohnen, nichts von Schwimmern halten, so wie Bergbewohner den Bergsteigern misstrauen. Aber nicht der Schatten, den mein großer Bruder warf, sollte mein Entkommen sein, auch wenn mir jeder Name lieber gewesen wäre als »Pisser«, sogar »Ravis Bruder«. Aber ich hatte einen besseren Plan.
    Gleich am ersten Schultag setzte ich ihn in die Tat um, in der ersten Stunde. Ich saß zwischen anderen Schülern von Sankt Joseph in meiner Bank. Der Unterricht begann, wie stets der erste Schultag beginnt, mit dem Aufsagen der Namen. Jeder sagte seinen Namen, in der Reihenfolge, in der wir saßen.
    »Ganapathy Kumar«, sagte Ganapathy Kumar.
    »Vipin Nath«, sagte Vipin Nath.
    »Shamshool Hudha«, sagte Shamshool Hudha.
    »Peter Dharmaraj«, sagte Peter Dharmaraj.
    Bei jedem Namen machte der Lehrer ein Häkchen auf seiner Liste und sah kurz auf, um sich das Gesicht einzuprägen. Ich war entsetzlich aufgeregt.
    »Ajith Giadson«, sagte Ajith Giadson, vier Reihen weiter vorn ...
    »Sampath Saroja«, sagte Sampath Saroja, drei Reihen ...
    »Stanley Kumar«, sagte Stanley Kumar, zwei Reihen ...
    »Sylvester Naveen«, sagte Sylvester Naveen, direkt vor mir.
    Jetzt war ich dran. Zeit, Satan in seine Schranken zu weisen. Auf nach Medina.
    Ich sprang auf und lief an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden konnte, griff ich mir ein Stück Kreide und schrieb mit, was ich sagte:
    Ich heiße
Piscine Molitor Patel,
besser bekannt als
    — ich unterstrich doppelt die ersten beiden Buchstaben meines Vornamens —
    Pi Patel
    Und um es noch deutlicher zu machen, fügte ich hinzu:
    π = 3 , 14
    und zeichnete einen großen

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