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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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staunt, welches Maß an Empörung möglich ist. Eine Vehemenz, die einem Angst machen kann.
    Diese Leute verstehen nicht, dass man Gott im eigenen Inneren verteidigen muss, nicht nach draußen. Ihre Wut müsste sie selbst treffen. Denn das Böse in der Öffentlichkeit ist nichts weiter als das Böse, das aus dem Inneren entwischt. Das Feld, auf dem das Gute sich schlagen muss, ist nicht die große Arena, sondern die Lichtung im eigenen Herzen. Aber das Los der Witwen und Straßenkinder ist hart, sehr hart, und ihnen, nicht Gott, sollte den Selbstgerechten eine Hilfe sein.
    Einmal jagte mich ein Dummkopf aus der Großen Moschee. Als ich in die Kirche kam, sah der Priester mich so missbilligend an, dass er mir den Frieden Gottes vertrieb. Manchmal scheuchte ein Brahmane mich vom Darshan fort. Man berichtete den Eltern von meinen frommen Schandtaten in den ängstlichen, aufgeregten Tönen, in denen man einen Verräter beim Namen nennt.
    Als ob solche Kleinlichkeit Gott zur Ehre gereichte.
    Für mich ist Religion eine Frage der Würde, nicht der Gehässigkeit.
    Ich ging nicht mehr zur Jungfrau der unbefleckten Empfängnis, sondern besuchte die Messe stattdessen bei der Jungfrau der Unschuldigen. Nach dem Freitagsgebet blieb ich nicht mehr bei meinen Glaubensbrüdern stehen. Ich ging zum Tempel, wenn es besonders voll war, damit die Brahmanen nicht zwischen Gott und mich treten konnten.

Kapitel 26
    Ein paar Tage nach der Begegnung auf der Esplanade fasste ich mir ein Herz und ging zu Vater ins Büro.
    »Vater?«
    »Ja, Piscine.«
    »Ich möchte mich taufen lassen, und ich hätte gern einen Gebetsteppich.«
    Es dauerte eine Weile, bis meine Worte zu ihm durchgedrungen waren. Erst da blickte er von seinen Papieren auf.
    »Wie bitte? Was?«
    »Ich möchte im Freien beten können, ohne dass ich mir die Hose schmutzig mache. Und ich gehe auf eine christliche Schule, obwohl ich nicht einmal ein getaufter Christ bin.«
    »Und warum willst du im Freien beten? Warum willst du überhaupt beten?«
    »Weil ich Gott liebe.«
    »Aha.« Meine Antwort schien ihn zu verblüffen, ja, sie war ihm offenbar peinlich. Er schwieg. Ich rechnete schon fast damit, dass er mir wieder ein Eis anbieten würde. »Das Petit Seminaire ist nur dem Namen nach christlich. Es sind viele Hindujungen dort, die keine Christen sind. Den guten Unterricht bekommst du auch ohne Taufe. Und besser wird er auch nicht, wenn du zu Allah betest.«
    »Aber ich will zu Allah beten. Ich will Christ werden.«
    »Beides geht nicht. Du musst dich entscheiden.«
    »Und warum nicht beides?«
    »Weil es zwei verschiedene Religionen sind! Die beiden haben überhaupt nichts miteinander gemein!«
    »Das hört sich aber da ganz anders an. Beide sagen, Abraham ist ihr Stammvater. Die Muslims sagen, der Gott der Christen und Hebräer ist derselbe wie der Gott der Muslims. Sie erkennen David, Moses und Jesus als Propheten an.«
    »Was hat das mit uns zu tun, Piscine? Wir sind
Inder!«
    »Schon seit Jahrhunderten gibt es Christen und Moslems in Indien. Es heißt sogar, Jesus liegt in Kaschmir begraben.«
    Er sagte nichts, sah mich nur mit gerunzelter Stirne an. Dann riefen die Zoogeschäfte.
    »Sprich mit Mutter darüber.«
    Sie las gerade.
    »Mutter?«
    »Ja, mein Schatz?«
    »Ich möchte mich taufen lassen, und ich hätte gern einen Gebetsteppich.«
    »Sprich mit Vater darüber.«
    »Das habe ich schon. Er sagt, ich soll mit dir reden.«
    »Tatsächlich?« Sie legte ihr Buch beiseite. Sie blickte ins Weite, zum Zoo hinüber. Ich bin sicher, Vater spürte in diesem Augenblick einen recht eisigen Lufthauch. Sie ging zum Bücherregal. »Ich habe hier ein Buch, das wird dir gefallen.« Sie hatte die Hand schon nach einem Band ausgestreckt. Robert Louis Stevenson. Ihre übliche Taktik.
    »Das habe ich schon gelesen, Mutter. Schon dreimal.«
    »Oh.« Ihr Arm wanderte ein Stück nach links.
    »Conan Doyle auch«, sagte ich.
    Der Arm ging nach rechts. »R. K. Narayan? Du kannst doch unmöglich schon alles von Narayan gelesen haben?«
    »Mutter, diese Dinge sind mir wichtig.«
    »Robinson Crusoe!«
    »Mutter!«
    »Aber Piscine!«, sagte sie. Sie setzte sich wieder in ihren Sessel, mit einem Weg-des-geringsten-Widerstandes-Gesicht, was bedeutete, dass der Kampf nicht leicht werden würde und ich die richtigen Stellen treffen musste. Sie legte sich ein Kissen in den Nacken. »Vater und ich können uns über deinen religiösen Eifer nur wundern.«
    »Es ist ein Wunder.«
    »Hmmm. So meine ich

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