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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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ich unternahm nichts. Und meine Wut verflog auch schnell wieder. Das muss ich zugeben. Allzu viel Mitleid hatte ich für das Zebra nicht übrig. Wenn man selbst in Lebensgefahr ist, stumpft jedes Mitgefühl ab, und man ist überwältigt vom ungestümen, selbstsüchtigen Hunger nach Überleben. Es war traurig, dass dieses Zebra so viel leiden musste - und es war ein so großes, kräftiges Tier, dass es noch lange nicht am Ende seiner Qualen angelangt war -, aber ich konnte nichts daran ändern. Ich bedauerte es, und dann war anderes an der Reihe. Ich bin nicht stolz darauf. Es macht mich unglücklich, dass ich damals nicht mehr für es empfand. Ich habe dieses arme Zebra und das, was es durchmachen musste, nicht vergessen. Ich schließe es in jedes meiner Gebete ein.
    Orangina war weiterhin nicht zu sehen. Ich wandte mich wieder dem Horizont zu.
    Am Nachmittag wurde es windiger, und mir fiel etwas an dem Rettungsboot auf: Obwohl es nicht leicht sein konnte, hatte es kaum Tiefgang, wahrscheinlich weil es nicht voll besetzt war. Wir hatten reichlich Freibord - der Abstand zwischen Wasserlinie und Bordkante -, und es musste schon sehr hohe See kommen, bevor das Wasser ins Boot schwappte. Andererseits bedeutete das aber auch, dass dasjenige Ende, auf dem der Wind stand, leicht vom Kurs abkommen konnte, sodass wir eine Neigung hatten, uns quer zu den Wellen zu stellen. Bei kleineren Wellen ergab dies ein unablässiges Pochen an den Schiffsrumpf wie mit Fäusten, größere Wellen brachten das Boot jedoch unangenehm zum Rollen, und es schlingerte schwer. Von dieser unablässigen und unnatürlichen Bewegung drehte sich mir alles.
    Vielleicht war es in einer anderen Stellung besser. Ich hangelte mich am Ruder entlang und kletterte wieder auf den Bug. Nun blickte ich in die Wellen, den Rest des Bootes zu meiner Linken. Damit war ich der Hyäne wieder näher, doch die rührte sich nicht.
    Ich atmete tief und konzentrierte mich ganz darauf, das Schwindelgefühl zu vertreiben, und da sah ich Orangina. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie ganz untergetaucht war, vielleicht unter der Plane zum Bug gekrochen, so weit fort von der Hyäne wie sie nur konnte. Aber nein. Sie saß auf der Seitenbank, gerade außerhalb der Hyänenrennbahn und nur knapp vom aufgerollten Planenende verborgen. Sie brauchte nur um ein paar Zentimeter den Kopf zu heben, da sah ich sie.
    Nun war meine Neugier geweckt. Ich musste genauer hinsehen. So sehr das Boot auch rollte, richtete ich mich zu einer knienden Haltung auf. Die Hyäne sah mich an, blieb aber, wo sie war. Orangina kam in Sicht. Sie saß ganz zusammengesunken und hielt sich mit beiden Händen am Bootsrand fest, den Hals eingezogen. Der Mund stand offen, die Zunge bewegte sich hin und her. Man konnte sehen, dass sie schwer atmete. Bei aller Pein, in der ich war, und bei aller Übelkeit musste ich doch lachen. Alles an dem Bild, das Orangina in diesem Augenblick bot, sprach nur das eine Wort:
seekrank.
Ich sah mich als Entdecker einer neuen, äußerst raren Spezies: des maritimen grünen Orang-Utans. Ich kehrte wieder zu meiner Sitzposition zurück. Wie menschlich dieser arme Affe in seiner Krankheit aussah! Es ist immer ein Riesenspaß, menschliche Züge in Tiere hineinzulesen, gerade in Affen und Menschenaffen, wo es so einfach ist. Nirgends hält die Tierwelt uns so deutlich den Spiegel vor wie im Affen. Deshalb sind sie auch im Zoo immer so beliebt. Ich lachte noch einmal. Ich fuhr mir mit der Hand an die Brust, so überrascht war ich von meiner eigenen Stimmung. Meine Güte. Dieses Lachen war wie der Ausbruch eines Glücksvulkans in meinem Inneren. Und Orangina hatte mich nicht nur aufgemuntert, sie hatte auch die Bürde der Seekrankheit für uns beide auf sich genommen. Mein Schwindel war verflogen.
    Mit neuer Hoffnung suchte ich den Horizont ab.
    Außer der Seekrankheit gab es noch etwas zweites Bemerkenswertes an Orangina: Sie war unverletzt. Und sie saß mit dem Rücken zur Hyäne, wie überzeugt davon, dass diese ihr nichts anhaben könne. Das Ökosystem dieses Rettungsbootes war wirklich verblüffend. In der Natur begegneten sich Tüpfelhyäne und Orang-Utan nie, denn die einen gab es nicht auf Borneo und die anderen nicht in Afrika, und man konnte nicht voraussagen, wie sie aufeinander reagieren würden. Aber es schien mir doch sehr unwahrscheinlich, um nicht zu sagen undenkbar, dass ein solcher vegetarischer Baumbewohner und ein Raubtier aus der Savanne, wenn sie einander begegneten,

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