Schiffbruch Mit Tiger
sich dermaßen radikal in ihren eigenen Nischen einrichten würden, dass sie einander gar nicht beachteten. Mit Sicherheit würde doch eine Hyäne im Orang-Utan die Beute wittern, wenn auch eine exotische, die ihr wegen der enormen Haarknäuel, die später hervorzuwürgen waren, im Gedächtnis bleiben würde, aber eben eine, die besser schmeckte als ein Auspuffrohr und eine, nach der man in Zukunft nahe Bäumen Ausschau halten würde. Und genauso würde ein Orang-Utan auf den ersten Blick in der Hyäne den Räuber erkennen, einen, vor dem man besser auf der Hut war, wenn einem einmal eine Zibetfrucht herunterfiel. Aber die Natur überrascht uns doch immer wieder von neuem. Vielleicht stimmte das alles gar nicht. Wenn Ziegen und Rhinozerosse friedlich miteinander umgingen, warum dann nicht auch ein Orang-Utan und eine Hyäne? Das wäre ein Knalleffekt im Zoo gewesen. Wir hätten ein Schild aufstellen müssen. Ich sah es vor mir: »Liebe Besucher, sorgen Sie sich nicht um die Orang-Utans! Sie sitzen in den Bäumen, weil das ihr natürlicher Lebensraum ist, nicht weil sie sich vor den Tüpfelhyänen fürchten. Schauen Sie zur Fütterungszeit noch einmal vorbei oder am Abend, wenn die Affen durstig werden, und Sie werden sehen, wie sie von den Bäumen herunterkommen und sich frei bewegen, und die Hyänen krümmen ihnen kein Haar.« Genau nach Vaters Geschmack.
Später am Nachmittag sah ich zum ersten Mal eine Vertreterin jener Spezies, die mir zur guten, verlässlichen Freundin werden sollte. Etwas schlug gegen den Rumpf des Rettungsboots, ein scharrendes Geräusch. Ein paar Sekunden darauf kam, so nahe am Boot, dass ich mich hätte hinauslehnen und nach ihr fassen können, eine große Seeschildkröte hervor, schwamm mit trägen Flossenbewegungen vorüber und streckte den Kopf aus dem Wasser. Sie war auf ihre hässliche Art eine imposante Erscheinung, etwa einen Meter lang mit einem rauen, gelbbraunen Panzer, auf dem an manchen Stellen die Algen wuchsen, mit dunkelgrünem Kopf und scharfem Schnabel, lippenlos, mit zwei klar umrissenen Nasenlöchern und schwarzen Augen, die mich forschend anstarrten. Die ganze Erscheinung war streng und gebieterisch, wie ein hochnäsiger alter Mann, der gleich zu schimpfen anfangen wird. Das Erstaunlichste an diesem Reptil war, dass es überhaupt existierte. Es sah so unförmig aus, wie es da im Wasser schwamm, so viel weniger gelungen als die glatte, schlanke Gestalt der Fische. Und doch war die Schildkröte sichtlich in ihrem Element, und ich war derjenige, der nicht ins Bild passte. Eine ganze Weile blieb sie längsseits.
»Schwimm«, rief ich ihr zu. »Finde ein Schiff und sage ihm, dass ich hier bin. Schwimm.« Sie wandte sich ab, tauchte und schwamm mit kräftigen Stößen der beiden Hinterflossen davon.
Kapitel 46
Wolken, die sich sammelten, wo Schiffe erscheinen sollten, und das Verstreichen des Tages sorgten dafür, dass mein Lächeln allmählich verschwand. Sinnlos zu sagen, diese oder jene Nacht sei die schlimmste in meinem Leben gewesen. Ich könnte zwischen so vielen schlimmen Nächten wählen, dass ich keine bevorzugen möchte. Doch an jene zweite Nacht auf See denke ich als eine Nacht ganz besonderer Qual zurück, denn die zweite war, anders als die erste mit ihrer Kälte und Furcht, beherrscht von einem eher alltäglichen Kummer, von Niedergeschlagenheit, Weinen, Seelenpein, und anders als in den Nächten, die folgen sollten, war ich damals noch stark genug, dass ich wirklich begriff, was mit mir geschah. Und dieser grässlichen Nacht ging ein grässlicher Abend voraus.
Ich hatte bemerkt, dass rund um das Rettungsboot immer wieder Haie auftauchten. Die Sonne zog schon für die Nacht ihre Vorhänge vor, ein Kaleidoskop aus Orangerot und Rot, eine große chromatische Symphonie, ein Farbenrausch in wahrhaft gigantischen Dimensionen, ein pazifischer Sonnenuntergang wie aus dem Bilderbuch und an mich ganz und gar verschwendet. Schnell und spitzmäulig zogen die Haie vorbei, mit den langen, mörderischen Raubtierzähnen, die weit aus ihren Mäulern herausragten. Gut zwei Meter maßen die Makos, einer sogar noch deutlich mehr. Beklommen beobachtete ich sie. Der größte kam auf das Boot zu, als wolle er es angreifen, die Rückenflosse ragte weit aus dem Wasser heraus, doch kurz vor dem Aufprall tauchte er ab und glitt in mörderischer Anmut unter uns hindurch. Er machte kehrt, schwamm noch einmal heran, doch nicht mehr so nahe, dann war er verschwunden. Die anderen blieben
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