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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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nur höheren Schrei. Ein Meter mochte der Abstand zwischen den beiden Tieren sein, sie standen sich Auge in Auge, die weit aufgerissenen Mäuler genau gegenüber. Beide legten ihre sämtliche Kraft in dies Brüllen, und die Leiber bebten vor Anstrengung. Ich konnte der Hyäne bis tief in den Rachen sehen. Die pazifische Luft, in der noch Augenblicke zuvor nichts anderes zu hören gewesen war als das Murmeln und Flüstern der See, eine natürliche Melodie, die ich angenehm genannt hätte, wären die Umstände glücklicher gewesen, war mit einem Schlag erfüllt von markerschütternden Schreien, dem Tosen eines Schlachtfelds mit dem ohrenbetäubenden Donner der Flinten und Kanonen und den Schlägen der explodierenden Bomben. Die Hyäneschreie füllten die hohen Bereiche des Spektrums, Oranginas brüllender Bass die niederen, und irgendwo dazwischen stieß das Zebra seine hilflosen Schreie aus. Meine Ohren waren voll davon. Nichts weiteres, kein einziger Laut mehr, hätte noch hineingepasst.
    Ich zitterte am ganzen Leib und konnte nichts dagegen tun. Ich war überzeugt, dass die Hyäne sich jeden Moment auf Orangina stürzen würde.
    Ich hätte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer werden könnte, aber da sollte ich mich irren. Das Zebra schnaubte einen Blutschwall über Bord. Sekunden später wurde das Boot von einem schweren Stoß getroffen, gleich darauf von einem zweiten. Bald war das Wasser ringsum aufgewühlt von Haien. Sie suchten nach der Quelle des Blutes, das ihnen Beute in nächster Nähe verhieß. Wie der Blitz schossen die Schwanzflossen aus dem Wasser, tauchten die Köpfe auf. Immer wieder stießen sie an das Boot. Nicht dass wir kentern könnten, fürchtete ich - es schien mir vielmehr, als könne tatsächlich ein Hai sich durch den stählernen Schiffsleib bohren und uns versenken.
    Bei jedem Schlag fuhren die Tiere zusammen und blickten sich erschrocken um, aber von ihrer Hauptbeschäftigung, dem gegenseitigen Anbrüllen, ließen sie sich nicht abhalten. Ich war überzeugt, dass dieses akustische Duell nur die Vorstufe zum Kampf war. Doch stattdessen brach es nach ein paar Minuten mit einem Male ab. Orangina wandte unter Schnaufen und Schmatzen der Hyäne den Rücken zu, und diese zog sich hinter den aufgerissenen Leib des Zebras zurück. Die Haie ließen, als sie nichts fanden, wieder vom Boot ab und schwammen nach einer Weile davon. Schließlich war wieder alles still.
    Ein widerlicher Geruch hing in der Luft, eine Mischung aus Rost und Exkrementen. Überall war Blut, das zu einer dunkelroten Kruste gerann. Eine einzige Fliege summte umher, doch für mich klang sie wie die Sturmglocke des Wahnsinns. Kein Schiff, nicht das geringste Lebenszeichen, war den Tag über am Horizont erschienen, und nun war dieser Tag fast vorüber. Wenn die Sonne unter dem Horizont versank, dann starben nicht nur der Tag und das arme Zebra, sondern mit ihnen starb auch meine Familie. Mit jenem zweiten Sonnenuntergang verschwand die falsche Hoffnung, und Schmerz und Kummer zogen auf. Sie waren tot; das konnte ich nicht länger leugnen. Was für ein Schlag, wenn das Herz eines Menschen mit so etwas fertig werden muss! Wer einen Bruder verliert, der verliert jemanden, mit dem er gemeinsam alt werden konnte, jemanden, der ihm eine Schwägerin, Nichten und Neffen bescheren sollte, Menschen, die den Baum eines Lebens bevölkern und ihm neue Zweige geben sollten. Den Vater zu verlieren heißt den zu verlieren, der dem Leben die Richtung gibt, denjenigen, zu dem man geht, wenn man in Not ist, der einen trägt und erhält, wie ein Stamm die Äste eines Baumes trägt. Und wenn man die Mutter verliert, das ist, als verlöre man die Sonne am Himmel. Das ist - aber ich will lieber nichts weiter sagen. Ich legte mich auf die Plane und verbrachte die ganze Nacht mit Weinen und Klagen, das Gesicht in den Armen verborgen. Die halbe Nacht über hörte ich, wie die Hyäne fraß.

Kapitel 47
    Der Tag brach an, schwül und bewölkt, der Wind warm, der Himmel eine dichte graue Wolkendecke wie schmutzige, zerwühlte Betttücher. Die See war unverändert. Im immer gleichen Rhythmus hob sie das Boot und ließ es wieder in die Tiefe gleiten.
    Es war unglaublich, aber das Zebra war immer noch am Leben. Seinem Körper fehlte ein Stück, aus einem Loch wie einem frisch ausgebrochenen Vulkan quollen halb aufgefressene Organe, manche im Licht schimmernd, manche schwarz und geheimnisvoll, und doch pulsierte weiter das Leben in ihm, wenn auch nur noch

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