Schiffbruch Mit Tiger
länger, schwammen hierhin und dorthin, manche kaum eine Handbreit unter der Oberfläche, andere mehr in der Tiefe. Auch andere Fische waren zu sehen, Fische in jeder Größe, Form und Farbe. Ich hätte sie sicher näher betrachtet, hätte nicht etwas anderes mich abgelenkt: Orangina reckte von neuem den Kopf.
Sie drehte sich zu mir um und legte den Arm in einer Bewegung auf die Plane, die exakt jener glich, mit der unsereiner sich auf den Stuhl nebenan gestützt hätte, wäre uns nach lässiger Entspannung zumute gewesen. Obwohl sie, das war deutlich, nichts weniger im Sinn hatte. Mit einem tieftraurigen Gesichtsausdruck sah sie sich um, wandte bedächtig den Kopf von einer Seite zur anderen. Die Menschenähnlichkeit hatte nun nichts Lustiges mehr. Zweimal hatte sie im Zoo Nachwuchs bekommen, kräftige Affenjungen von inzwischen fünf und acht Jahren, ihr - und unser - ganzer Stolz. Ohne Zweifel dachte sie an die beiden, als sie den Blick über den Horizont schweifen ließ und unwillentlich nachahmte, was ich nun schon seit anderthalb Tagen tat. Sie sah mich an und schien nicht im Mindesten überrascht. Ich war ein Tier wie sie, eines, das wie sie alles verloren hatte und dem Tod geweiht war. Damit waren meine Mundwinkel endgültig unten angekommen.
Dann, mit nur einem kurzen Knurren als Ankündigung, schlug die Hyäne zu. Den ganzen Tag über hatte sie sich in ihrem engen Quartier nicht gerührt. Sie stellte sich mit den Vorderbeinen auf die Flanke des Zebras, lehnte sich vor und fasste ein Stück Fell mit den Zähnen. Mit einem heftigen Ruck löste sie ein Stück Haut vom Zebra ab, wie man das Papier von einem Geschenk abreißt, ein glatter Streifen, nur - wie es bei reißender Haut ist - lautlos und gegen größeren Widerstand. Blut quoll hervor wie ein Bach. Mit Bellen, Schnauben, Schreien erwachte das Zebra zum Leben, versuchte sich zu verteidigen. Es stemmte sich auf die Vorderbeine und reckte den Hals, um nach der Hyäne zu schnappen, kam aber an seinen Gegner nicht heran. Es zuckte mit dem unverletzten Hinterbein, was ebenfalls nichts bezweckte, aber immerhin die Klopflaute der vorangegangenen Nacht erklärte: Es war der Huf gewesen, der gegen die Schiffswand trat. Die Versuche des Zebras, sich zu verteidigen, stachelten die Hyäne nur zu einem fauchenden, beißenden Furor auf. Sie riss eine riesige Wunde in die Flanke des Zebras. Als ihr die Reichweite vom Rücken her nicht mehr genügte, kletterte sie auf den Hinterschenkel des Zebras. Sie riss ihm Därme und andere Eingeweide heraus. Ihr Angriff war völlig planlos. Sie fraß hier ein Stück, biss dort hinein, anscheinend überwältigt von dem Reichtum, den sie vor sich hatte. Nachdem sie die halbe Leber verschlungen hatte, zerrte sie an dem weißlichen ballonförmigen Magensack. Aber der war schwer, und da die Schenkel höher lagen als der Bauch - und da Blut glitschig ist -, rutschte die Hyäne allmählich in ihr Opfer hinein. Sie steckte Kopf und Schulter hinein und stand bis zu den Knien der Vorderbeine in Zebraeingeweiden. Sie wollte sich abstoßen, sank aber gleich wieder hinein. Am Ende fand sie sich mit ihrer Lage ab, halb drinnen, halb draußen. Das Zebra wurde bei lebendigem Leibe von innen gefressen.
Seine Gegenwehr wurde schwächer. Blut lief ihm aus der Nase. Ein- oder zweimal reckte es den Kopf in die Höhe, als flehe es den Himmel an - der perfekte Ausdruck dieses abscheulichen Augenblicks.
Orangina sah den Ereignissen nicht teilnahmslos zu. Sie richtete sich auf ihrer Bank zu voller Höhe auf. Mit ihren unverhältnismäßig kurzen Beinen und dem massiven Leib sah sie aus wie ein Kühlschrank auf krummen Rädern. Aber wenn sie die Arme in die Höhe reckte, war sie eine imposante Erscheinung. Die Spanne überstieg die Körpergröße - eine Hand baumelte über dem Wasser, die andere reichte bis fast auf die gegenüberliegende Seite des Boots. Sie schürzte die Lippen, bleckte ihre riesigen Zähne und begann zu
brüllen.
Es war ein tiefes, mächtiges, volltönendes Brüllen, verblüffend für ein Tier, das im Alltag so schweigsam war wie eine Giraffe. Die Hyäne war von diesem Ausbruch nicht minder verblüfft als ich. Sie duckte sich und trat den Rückzug an. Aber nicht für lange. Sie starrte Orangina an, die Haare an Hals und Schultern richteten sich auf, und der Schwanz stand in die Luft. Sie stieg wieder auf das zu Tode verwundete Zebra, und von da antwortete sie, die Schnauze noch blutig vom Fraß, mit einem nicht minder mächtigen,
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