Schiffbruch Mit Tiger
war ihr Angriff jedoch nicht mehr. Sie wich zurück. Ich jubilierte. Ich war begeistert von Oranginas heldenhaftem Kampf.
Aber das dauerte nicht lange.
Ein ausgewachsenes Orang-Utan-Weibchen hat keine Chance gegen eine erwachsene männliche Tüpfelhyäne. Das ist eine schiere empirische Tatsache. Die Zoologen können es zu den Akten nehmen. Wäre Orangina ein Männchen gewesen, hätte sie so viel Gewicht auf die Waage gebracht, wie sie Gewicht in meiner persönlichen Wertung hatte, dann wären die Aussichten vielleicht anders gewesen. Aber selbst dick und schwer, wie sie vom bequemen Leben im Zoo war, wog sie höchstens ihre 110 Pfund. Die Frauen sind bei den Orang-Utans halb so groß wie die Männer. Aber es kommt auf mehr als nur Masse und Körperkraft an. Orangina war ja nicht wehrlos. Was den Kampf entschied, das waren die Einstellung und das Wissen. Was weiß denn jemand, der von Früchten lebt, schon vom Töten? Woher sollte er gelernt haben, wo man zubeißen muss, wie fest, wie lange? Ein Orang-Utan mag größer als eine Hyäne sein, er mag längere Arme haben und kräftigere Zähne, aber er weiß nicht, was er mit diesen Waffen anfangen soll, und deswegen helfen sie ihm auch nichts. Die Hyäne hat nichts als ihr Gebiss, aber trotzdem ist sie dem Affen überlegen, weil sie genau weiß, was sie will und wie sie es erreichen kann.
Die Hyäne griff von neuem an. Sie sprang auf die Bank und packte Orangina am Handgelenk, bevor sie zuschlagen konnte. Orangina versetzte dem Hyänenkopf mit dem anderen Arm einen Haken, aber der Schlag ließ das Untier nur umso mörderischer fauchen. Sie wollte zubeißen, aber die Hyäne war schneller. So traurig das war, Oranginas Verteidigung fehlte die Präzision, die Kohärenz. Sie konnte aus ihrer Furcht kein Kapital schlagen, sie behinderte sie nur. Die Hyäne ließ das Handgelenk los und stürzte sich genau auf ihren Hals.
Starr vor Schmerz und Entsetzen sah ich zu, wie Orangina hilflos auf die Hyäne einhieb und ihr das Fell ausriss, als sie ihr schon die Kehle zudrückte. Bis zum letzten Augenblick erinnerte Orangina mich an uns Menschen: aus ihrem Blick sprach ein so menschlicher Schrecken, genau wie aus ihrem letzten Jammern. Sie versuchte, auf die Plane zu klettern. Die Hyäne schüttelte sie heftig. Sie verlor den Halt auf der Bank und stürzte auf den Boden des Boots, und die Hyäne mit ihr. Ich hörte Laute von unten, aber ich sah nichts mehr.
Ich war als Nächster an der Reihe. Da hatte ich keinen Zweifel. Schwankend erhob ich mich. Vor Tränen in den Augen konnte ich kaum etwas sehen. Ich weinte nicht mehr um meine Familie, ich beklagte auch nicht meinen eigenen bevorstehenden Tod. Für beides war ich viel zu benommen. Ich weinte, weil ich so entsetzlich erschöpft war und nichts anderes als Ruhe mehr wollte.
Ich balancierte auf der Plane. Am Vorderende war sie straff gespannt, doch zur Mitte hin hing sie durch, und es waren drei mühsame, schwankende Schritte. Ich musste über das Netz und das zusammengerollte Ende der Plane steigen. Und all diese Anstrengung in einem Rettungsboot, das unablässig rollte. Bei meiner Verfassung kam es mir wie ein langer Treck vor. Schließlich kam ich auf der mittleren Querbank zu stehen, und der feste Untergrund machte mir Mut, fast als sei ich an Land gekommen. Mit breiten Beinen stand ich da und genoss das Gefühl. Mir schwindelte, doch da ich mich zum größten Augenblick meines Lebens aufschwang, steigerte dieser Schwindel die panisch-heroische Stimmung nur noch. Ich hob meine Hände zur Brust-die einzigen Waffen, die ich gegen die Hyäne hatte. Sie sah zu mir auf. Ihr Maul war rot. Orangina lag neben ihr, halb auf dem toten Zebra. Die Arme waren weit ausgestreckt, die kurzen Beine verschränkt und ein wenig zur Seite gewendet. Es war das Bild von Christus am Kreuz. Nur dass der Kopf fehlte. Die Hyäne hatte ihn abgebissen. Aus der Halswunde rann noch das Blut. Es war ein entsetzlicher Anblick, einer, der mir den letzten Lebensmut nahm. Ich würde mich mit bloßen Händen auf die Hyäne stürzen, und um meine Kräfte für diesen letzten Kampf zu sammeln, senkte ich noch einmal den Blick.
Zwischen meinen Füßen, unter der Bank, sah ich den Kopf von Richard Parker. Er war gigantisch. Meinem verwirrten Sinn schien er groß wie der Planet Jupiter. Seine Pranken waren wie Bände der
Encyclopaedia Britannica.
Ich wankte zurück zum Bug und sank auf die Plane.
Die Nacht verbrachte ich im Delirium. Immer wieder schreckte ich
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