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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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diesem räudigen Hund zu fürchten, wenn zugleich ein Tiger in der Nähe war, das war, als hätte man Angst vor einem Splitter, wo ganze Bäume stürzten. Ich spürte nur noch Abscheu vor ihr. »Du widerwärtiges, hässliches Ding«, murmelte ich. Ich hätte mich aufgerichtet und sie mit einem Stock vom Boot geprügelt, hätte ich Kraft genug und einen Stock gehabt. An Mut mangelte es nicht.
    Spürte die Hyäne etwas von meinem Gefühl der Überlegenheit? Sagte sie sich: »Vorsicht, ein Alphatier beobachtet mich - besser nicht bewegen«? Ich weiß es nicht. Jedenfalls rührte sie sich nicht. Ja, sie saß sogar so geduckt da, als wolle sie sich vor mir verstecken. Aber das würde ihr nichts helfen. Sie würde schon noch bekommen, was sie verdiente.
    Richard Parker war auch die Erklärung dafür, warum die Tiere sich so seltsam benommen hatten. Jetzt war klar, warum die Hyäne sich in den lächerlich engen Raum hinter dem Zebra gezwängt hatte und warum sie so lange gezögert hatte, bis sie es anfiel. Es war Furcht vor dem größeren Tier, Hemmung, dessen Beute anzutasten. Der angespannte vorübergehende Frieden zwischen der Hyäne und Orangina und die Tatsache, dass sie mich bisher verschont hatte, waren mit Sicherheit demselben Grunde zuzuschreiben: Für das größte Raubtier an Bord war jeder von uns Beute, und kleinere Räuber mussten sich beherrschen. Allem Anschein nach hatte die Anwesenheit des Tigers mich vor der Hyäne geschützt - in eine größere Traufe konnte man vom Regen wohl kaum kommen.
    Aber das Herrentier benahm sich nicht wie ein Herrentier, und so hatte die Hyäne sich Freiheiten erlaubt. Ich fragte mich, warum Richard Parker so teilnahmslos geblieben war, und das drei volle Tage lang. Nur zwei Erklärungen fielen mir ein: Betäubung oder Seekrankheit. Vater hatte bestimmten Tieren regelmäßig Beruhigungsmittel gegeben, damit die Seefahrt sie nicht zu sehr belastete. Hatte er womöglich noch am Abend vor dem Unglück Richard Parker ein Sedativum verabreicht? Hatte der Schock des Schiffbruchs - der Lärm, der Sturz ins Meer, die entsetzliche Anstrengung, mit der er zum Rettungsboot geschwommen war - den betäubenden Effekt verstärkt? Und machte ihm danach die Seekrankheit zu schaffen? Das waren die beiden einzigen plausiblen Erklärungen, auf die ich kam.
    Aber lange hielt ich mich mit der Frage nicht auf. Ich brauchte Wasser.
    Ich sah mich im Boot um.

Kapitel 50
    Es war exakt dreieinhalb Fuß hoch, acht Fuß breit und sechsundzwanzig Fuß lang. Ich weiß das so genau, weil es an der Seite in schwarzen Lettern angeschrieben stand. Mit anderen Worten, einen guten Meter hoch, knapp acht Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Außerdem hieß es in der Aufschrift, das Boot könne maximal zweiunddreißig Personen aufnehmen. Wäre das nicht schön gewesen, es mit so vielen zu teilen? Stattdessen waren wir nur drei, und selbst zu dritt war es entschieden überfüllt. Das Boot war symmetrisch, mit abgerundeten Enden, die nicht leicht auseinander zu halten waren. Das Heck erkannte man an einem kleinen, fest anmontierten Ruder, kaum mehr als eine hintere Fortsetzung des Kiels, und die - von meinem Vordersteven abgesehen - einzige Besonderheit des Bugs war eine plumpe Spitze, der hässlichste Schiffsbug, der mir je untergekommen war. Der Schiffskörper war aus Aluminiumplatten zusammengenietet und weiß angestrichen.
    Soweit das Äußere des Rettungsboots. Innen war es nicht so geräumig, wie man denken konnte, weil die Seitenbänke und darunter die Schwimmtanks viel Platz einnahmen. Die Bänke erstreckten sich auf beiden Seiten über die gesamte Länge des Boots und vereinten sich an Bug und Heck zu beinahe dreieckigen Eckbänken. Die Bänke bildeten zugleich die Oberfläche der fest verschlossenen Schwimmtanks. Sie waren etwa fünfzig Zentimeter tief, die Eckbänke neunzig. In der Mitte des Bootes blieb also ein freier Raum von anderthalb mal sechs Metern - ein Revier für Richard Parker von neun Quadratmetern. Diesen Raum überspannten in der Breite drei Querbänke, eine davon vom Zebra zerschmettert. Diese Bänke waren sechzig Zentimeter tief, in gleichen Abständen voneinander angeordnet. Ebenfalls sechzig Zentimeter mochte der Abstand vom Boden sein - so viel Raum hatte Richard Parker, bevor er sich sozusagen den Kopf an der Decke stieß, wenn er unter einer Bank war. Unter der Plane kamen weitere dreißig Zentimeter hinzu, der Abstand zwischen den Bänken und dem Bootsrand, an dem die Plane

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