Schiffbruch und Glücksfall
hängen. Gute wie böse. Manche spüren es. Manche sehen es. Manche hören es. Simon spürt, ich sehe und höre.«
»Macht es Ihnen Angst?«
»Manchmal ja. Manchmal macht es mich auch glücklich. Das hier ist ein gutes Haus. Obwohl die Deutschen darin gewohnt haben.«
»Mieter?«
»Pff. War ein Hauptquartier. Ein Haufen Offiziere, die die armen Affen kommandiert haben, die den Westwall verteidigen sollten.«
»Sie mögen die Deutschen nicht?«
»Nein. Sie haben meinen Vater und meine Schwester ermordet. Gefoltert und hingerichtet.«
»Xavier!« Yves war empört.
»Oh!«, entgegnete Kelda. »Das … das tut mir leid.«
»Braucht es nicht. Das warst nicht du.«
Dennoch war sie erschüttert. »Die Deutschen, die hier gewohnt haben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Lass es ruhen, Xavier«, sagte Yves und reichte ihr seine Wasserflasche. »Kelda war mit Simon in der Chapelle Pol.«
Etwas unbeholfen, der Themenwechsel, aber Kelda ging darauf ein.
»Ja, aber wir haben weder die Schwingungen von Schiffbrüchigen noch von sündigen Priestern dort wahrgenommen.«
»Wohl kaum, das ist eine Stätte des Friedens. Saint Pol hält seine Hand darüber«, meinte Xavier. Er schien wirklicheine seltsame Glaubensmischung zu vertreten: christliche Heilige, spukende Geister, die Korriganen, wie Kelda sich erinnerte. Andererseits hatte sie auch schon einmal einen friedlichen Ort gefunden, der heidnisch und christianisiert zugleich war.
»Ich war auch am Men Marz und fand es sehr friedlich dort.«
Bedächtig nickte der alte Gnom und zog an seiner Zigarette. »Ja, der Men Marz. Ein guter Stein. Ist deiner oben geblieben?«
Ups, konnte er hellsehen?
»Ähm, ich habe einen Kiesel auf diesen Vorsprung geworfen, ja. Er ist oben geblieben.«
»Gut, gut. Dann wirst du bald einen guten Mann finden.«
»Ich suche aber nach gar keinem.«
»Macht ja nichts. Er wird dich eben finden. Das ist so mit dem Men Marz. Darum gehen die jungen Frauen zu ihm.«
»Ich habe ihn aber nicht darum gebeten.«
»Warum hast du denn sonst den Stein hochgeworfen?«
Gute Frage.
»Er lag einfach so in meiner Hand …«
»Nichts geschieht einfach so.«
»Na gut. Aber ich habe eben gerade die Beziehung zu meinem Freund beendet. Mir steht nicht der Sinn nach einer neuen.«
»Manches kannst du nicht beeinflussen. Nicht, wenn du am Men Marz warst.«
Er glaubte fest daran. Also widersprach Kelda ihm nicht weiter. Lieber wollte sie noch etwas über die ortsübliche Elfen- und Gnomenpopulation erfahren, mit der er laut Simon auch in Kontakt stand, aber da sah sie, wie ein Radfahrer hinter Marie-Claudes Wagen anhielt.
Ein sehr bekannter Radler.
»Mist, Matt kreuzt hier gleich auf.«
»Dein Freund?«
»Exfreund. Er ist ständig hinter mir her und macht mir Szenen.«
»Das gehört sich nicht. Soll ich ihn zusammenschlagen?«, fragte Xavier und grinste erfreut.
»Wär schön, aber er ist sehr sportlich.«
»Das bin ich auch.«
»Kelda, setzen Sie sich hinten auf den Lieferwagen. Ich fahre Sie runter zum Strand, und Sie machen einen hübschen Spaziergang zurück. Bis dahin hat Xavier ihn vergrault.«
Yves’ Vorschlag gefiel Kelda weit besser als eine Prügelei zwischen einem achtzigjährigen Kauz und Matt. Sie hockte sich also zwischen zwei alte hölzerne Fässer und eine Seekiste und wurde kräftig durchgeschüttelt. Allerdings nicht lange, dann hielt Yves wieder. Sie stieg aus und fand sich auf der großen, sandigen Fläche hinter der Düne, auf der eine Ansammlung von Pkws parkte.
»Es ist Ebbe, verlauf dich nicht. Am Bunker da hinten gehst du wieder über die Düne, dann bist du gleich am Haus. Wir haben da noch zwei Stunden lang zu tun.«
»Okay. Danke, Yves.«
»Nichts zu danken.«
Kelda ging zu dem mit einem verwitterten Holzgeländer begrenzten Durchgang durch die mit graugrünem, sehr scharfkantigem Gras bewachsene Düne. Vor ihr dehnte sich der weiße, schimmernde Strand aus. Er wirkte leer, das Meer hatte sich weit zurückgezogen, die wenigen Sonnenhungrigen verloren sich in der Weite.
Sie zog die Sandalen aus und lief barfuß durch den heißen Sand zum feuchten Watt. Wellig war der Boden, in den Vertiefungen warmes Wasser, kleines Getier tummeltesich in den Pfützen. Weiter vorne ragten die Felsen auf, von denen man bei Flut nur die Spitzen sehen konnte. In ihre Richtung wanderte sie, genoss den Wind, der ihr entgegenwehte, schnupperte die salzige Luft und lauschte dem Gelächter der Möwen, die sich erhoben, wenn sie sich ihnen
Weitere Kostenlose Bücher