Schilf
Beinen auf einem Kissen und wartet geduldig darauf, dass der Kommissar mit seiner Besichtigung fertig wird. In dieser Umgebung sind seine sorgfältig gestriegelten Haare und das weiße Hemd eine Form von Selbstironie. Als Schilf endlich in den Polstern des durchgesessenen Sofas versinkt, hebt Oskar das Kinn, öffnet den Mund und spricht.
»Überrascht?«
»Zugegeben, ja.«
»Ich sehe keinen Sinn darin, der eigenen Vergangenheit hinterherzuräumen. Anwachsende Unordnung ist ein Maß für das Vergehen von Zeit.«
Mit raubtierartiger Gewandtheit springt er auf die Füße.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Yogi-Tee zu Ehren eines plötzlich verstorbenen Sommers.«
Oskar hebt eine Augenbraue.
»Es gibt nichts, was diese Wohnung nicht hat.«
Kaum dass er den Raum verlassen hat, quält sich Schilf wieder aus den Kissen und schlüpft durch eine kleine Tür ins Nebenzimmer. Unter einer weiteren erstarrten Woge aus Gegenständen steht ein Schreibtisch, dessen oberste Schublade herausgezogen ist. Das Photo steckt in einem silbernen Rahmen jenes Typs, in dem andere Männer ihre Ehefrauen aufbewahren. Sebastian ist nicht älter als zwanzig und trägt zum Gehrock eine silberne Halsbinde. Sein Lachen ist eine Forderung, ein Fehdehandschuh im Angesicht des Betrachters.
»Ein netter Junge, n’est-ce pas ?«
Über die dicken Teppiche ist Oskar lautlos herangekommen. Als Schilf sich umwendet, stoßen sie fast mit den Köpfen zusammen. In Oskars schwarzen Augen sieht Schilf sich selbst. Sanft nimmt ihm der Hausherr das Bild aus der Hand.
»Es gibt wenige Dinge, die mir heilig sind.«
»Ich habe Ihren Freund auf Anhieb gemocht«, sagt Schilf. »Und ich glaube, ihm ging es ähnlich mit mir.«
»Das ist die Zuneigung des Meisenknödels zur Meise. Kommen Sie.«
Oskar legt das Bild in die Schublade zurück und schiebt den Kommissar aus dem Raum. Auf dem niedrigen Couchtisch beweist dampfender Tee, dass Schilf mindestens eine Viertelstunde über der Betrachtung der Photographie verbracht hat. Aus einer weißen Flasche gießt Oskar Rum in die Tassen.
»Für mich nicht«, sagt Schilf.
»Hier mache ich die Regeln.«
Noch bevor der Kommissar den ersten Schluck genommen hat, sticht ihm der Alkohol mit langen Nadeln in die Nase. Hinter dem Stirnbein zieht sich etwas zusammen und dehnt sich danach auf doppelte Größe. Schilf trinkt. Nie zuvor hat er ihn so deutlich gespürt, den fremden Herzschlag im Kopf. Die Krähe an der Deckenlampe bewegt die Flügel, Schatten gleiten an den Wänden hinauf. Oskars Gesicht ist eine feste Scheibe in einem Gespinst durcheinandergeratener Konturen. Sag etwas, denkt der Kommissar.
»Hat Sebastian gestanden?«, fragt Oskar.
»Wenn nicht, haben Sie ihn soeben verraten.«
»Nicht doch, Herr Kommissar. Ich weiß, dass Sie nicht so dumm sind, wie Ihr Beruf vermuten ließe.«
»Wissen Sie das von Sebastian?«
»Falls Sie in der Hoffnung hier sind, ich könnte ihn belasten …« Oskar neigt sich vor. »Eher würde ich mir mit eigener Hand die Zunge ausreißen.«
»Jetzt stellen Sie sich dumm«, sagt der Kommissar.
Der nächste Schluck Tee wirkt besser als jede Medizin. Der Druck wird schwächer; der fremde Herzschlag geht in ein gleichmäßiges Dröhnen über, welches nur das Gehör, nicht aber das Denkvermögen beeinträchtigt.
»Im Übrigen habe ich den Mordfall abgegeben. Schon das Wort behagt mir nicht. Fall . Hat was mit Fallen zu tun, meinen Sie nicht?«
Oskar erlaubt sich nicht das geringste Anzeichen von Verwunderung. Er schaut dem Kommissar abwartend auf den Mund und zündet sich eine Zigarette an, was dieser als Erfolg verbucht.
»Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Die Sendung hat mich beeindruckt. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Glauben Sie an Gott?«
Wenn Oskar lacht, ist es unmöglich, ihn nicht zu mögen.
»Sebastian hatte recht«, sagt er. »Sie sind ein ungewöhnlicher Kommissar.«
»Also hat er von mir gesprochen.« Schilf errötet, was wohl an der Wirkung des Alkohols liegt. »Beantworten Sie meine Frage?«
»Ich bin ein religiöser Atheist.«
»Warum religiös?«
»Weil ich glaube.« Höflich bläst Oskar den Rauch seiner Zigarette zur Seite. »Ich glaube, dass das Bestehen der Welt für uns nicht letztverbindlich erklärbar ist. Diese Erkenntnis zu ertragen kostet eine wahrhaft metaphysische Kraft.«
»Die Sebastian nicht besitzt?«
»Sie rühren an eine empfindliche Stelle. Der erwachsene Sebastian, dem Sie begegnet sind, ist in Wahrheit
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