Schilf
»Ich wollte gerade gehen.«
Auf der Straße steht er unter einem niedrigen Himmel und weiß nicht, wohin mit sich. Autos fahren in beide Richtungen vorbei, Menschen streben geheimen Zielen zu. Der Schmerz gräbt in seinem Unterkiefer. Schilf fasst sich mit beiden Händen ins Gesicht, um es vom Auseinanderbrechen abzuhalten. Er muss die Autos ansehen, damit sie weiterfahren; sich an die Hauswand lehnen, damit sie nicht einstürzt. Den Passanten mit Blicken folgen, damit sie nicht zu Staub zerfallen. Er ist der Wolkendecke ein Pfeiler, der Zeit ein Generator, der Erdachse das Lot. Wenn er die Augen zumacht, gibt es die Welt nicht mehr. Nur noch Kopfschmerz.
Jetzt noch nicht, denkt der Kommissar.
Seine nächsten Schritte finden festen Boden, kleine Pflasterstücke, jedes exakt so groß wie eine Schuhsohle. Er holt das Telefon hervor. Erreicht die Auslandsauskunft. Verlangt eine Rufnummer in Genf.
7
A uf trippelnden Krallenfüßen hat die Vogelgrippe Europa erreicht. Zugvögel verbreiten das Virus bis in die hintersten Winkel der Welt. Tot fallen Möwen vor Hamburgs Küsten vom Himmel; die Menschen rüsten sich für eine Epidemie. Alles, was fliegt, wird hingerichtet. Bald wird auf einer Waldlichtung die letzte Feder zu Boden taumeln, und danach ist es Kommissar Schilf, der das einzige überlebende Vogelei im Kopf trägt.
Er legt die zerlesene Zeitung beiseite, die er auf seinem Platz gefunden hat. Vogelgrippe. Als ob es sonst keine Probleme gäbe. Die Schmerzmittel des Hausarztes sind aufgebraucht, und in der Bahnhofsapotheke hat er nur Ibuprofen bekommen. Ihm gegenüber ist ein schnauzbärtiger Mittfünfziger damit beschäftigt, den Reiseplan mit Filzstiften in ein Notizbuch abzuschreiben. Aus den Kopfhörern eines Mädchens dringt das dürre Stampfen und Klimpern der Musik des 21. Jahrhunderts. Zwei Sitzreihen weiter trotzt ein Schaffner den Anwürfen einer wütenden Frau. Bitte lassen Sie mich den Satz vollenden. Das Personal gibt sich Mühe. Alles, was möglich ist, geschieht.
Draußen schiebt sich der Himmel als graue Kassettendecke nach Westen. Eine gelungene Darbietung von Spätherbst im Juli.
Als sich der Zug wieder in Bewegung setzt, gleiten die sanften Augenpaare einiger entlaufener Kälber vorbei, derentwegen man fast eine Stunde auf freier Strecke warten musste. Ein niedergestampfter Zaun, Männer, die in orangefarbenen Schutzanzügen ihre Arbeit tun.
Nasse Kälber, beschließt der Kommissar, sind ein gutes Zeichen. Das Gegenteil von schwarzen Katzen, Krähen und rufenden Käuzchen. Das ZDF hat zugesagt, die Videokassette mit der Aufzeichnung von Zirkumpolar noch heute auf den Weg zu bringen. Schilf reibt die Handflächen aneinander und versucht, sich durch langsames Ein- und Ausatmen zu beruhigen. Er wird das Gefühl nicht los, etwas versäumt zu haben, sich unwiderruflich am falschen Ort zu befinden. Plötzlich sieht er eine Katze vor sich, die er von Photographien an Rita Skuras Pinnwand kennt. Sie sitzt hinter einer Terrassentür, putzt sich die Vorderpfoten und macht ein wissendes Gesicht, als wäre sie dafür verantwortlich, dass in einer Wohnung am anderen Ende der Stadt zwei Handgelenke grob aufeinandergedrückt werden. Der helle Schopf eines Jungen erscheint im Spalt der Kinderzimmertür. Ein Blick aus schreckgeweiteten Augen bohrt sich wie ein Splitter ins Gehirn des Vaters. Ein metallisches Klicken, als die Handschellen einrasten. Eine blonde Frau rennt aufgelöst über den Flur. Ihre erhobenen Fingernägel kratzen nicht nach den Uniformierten, sondern nach dem Mann in ihrer Mitte.
Du hast einen Sohn!
Der Schrei schlägt Saltos und wird vom Knall einer zufallenden Tür erstickt. Blaues Licht streift rhythmisch über die Kulissen eines trüben Tages. Die Katze legt den Kopf schief und kratzt sich hinter dem Ohr.
Auch als der Mittfünfziger seine Filzstifte zusammenpackt und den Zug verlässt, reißt die Bilderserie nicht ab.
Eine Frau in Blümchenkleid und Strickjacke schiebt ihre dicken Locken im Nacken zusammen. Ihr gegenüber sitzt der Mann, jetzt ohne Handschellen, dafür mit grauem Gesicht. Ein schönes Paar. Der Hass zwischen ihnen breitet sich zügig im Raum aus wie diffundierendes Gas.
Wissen Sie, warum Sie hier sind?
Wo ist Kommissar Schilf?
Ich leite die Ermittlungen.
Der Blick der Frau dokumentiert eine Schießstandquote von über neunzig Prozent. Der Mann wird noch blasser; Schilf fasst sich an die Brust, wo etwas sticht. Die Frau lacht durch die Nase und schaltet ein
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