Schilf
noch immer der Junge, den Sie auf dem Photo gesehen haben. Wie alle Jungen sehnt er sich nach einer Welt, in der man gleichzeitig Freibeuter und Musterschüler sein kann.«
»Wie meinen Sie das?«
Oskar sieht zu, wie Schilf Tee nachschenkt, und schiebt die Rumflasche über den Tisch.
»Sebastian liebt sein Leben«, sagt er, »und wünscht sich trotzdem hinter eine vor Jahren getroffene Entscheidung zurück. Damals hat er sich mit rettendem Sprung über eine Mauer geworfen.«
»Was steht hinter dieser Mauer?«
» C’est moi «, sagt Oskar. »Und die Physik.«
»Eine Tragödie von klassischem Ausmaß.« Schilf pustet in den Dampf, der aus seiner Tasse steigt.
»Der Sarkasmus steht Ihnen nicht.«
»Es war ernst gemeint.«
»Dann haben Sie begriffen, wovon ich spreche.«
Sie sehen sich in die Augen, bis Schilf den Blick abwendet und seine Zigarillos aus der Tasche holt. Weit über den Tisch gelehnt, gibt Oskar Feuer und verharrt in dieser Haltung.
»Es kommt nicht selten vor«, sagt er, »dass kluge Menschen ihre Verzweiflung in wissenschaftliche Formeln gießen. Um glücklich zu sein, bräuchte ein Mann wie Sebastian eine zweite, eine dritte, vielleicht noch eine vierte Welt.«
»Damit alles, was möglich ist, geschieht«, sagt Schilf.
Wieder verflüssigt ein Lachen Oskars Züge; er kämmt sich mit fünf gespreizten Fingern durchs Haar.
»Sie sind wirklich gut«, sagt er und lässt sich zurücksinken. »Dann werden Sie auch verstehen, warum die Idee, dass mehrere, widersprüchliche Ereignisse zugleich geschehen, für manche Menschen einen großen Reiz besitzt. Und warum diese Idee trotzdem einem Alptraum gleicht.«
Nachdenklich betrachtet er die Glut seiner Zigarette, nimmt einen letzten Zug und drückt die Kippe in den Aschenbecher. Die ausgestopfte Krähe ist näher gerückt. Aus Sicht des Kommissars hängt sie genau über Oskars Kopf.
»Eine solche Denkweise«, fährt Oskar fort, »beseitigt die Gültigkeit jeder Erfahrung. Sie beseitigt uns . «
»Vielleicht hat Sebastian das inzwischen erkannt.« Schilf lässt Asche auf den Teppich fallen. »Durch die Entführung, von der er dauernd spricht.«
An Oskars Mundwinkeln haften die Reste seines Lachens.
»Ja«, sagt er, »vielleicht.«
»Sebastian und seine Familie«, sagt der Kommissar, »sind eine Gleichung mit einer Unbekannten. Jemand hat an der Wirklichkeit eine Schraube verstellt. Die richtige Methode, um ein falsches Bild zu erzeugen. Wenn sich der Mensch als Chef aufspielt, stemmt die Realität ihre fetten Arme in die Hüften und grinst ihm ins Gesicht. Eine gute Lüge hingegen ist die Wahrheit plus eins. Glauben Sie nicht auch?«
»Ehrlich gesagt«, Oskars Augen unternehmen eine Hetzjagd durch Schilfs Gesicht, »Sie reden ein bisschen wirr.«
Diesmal lacht der Kommissar.
»Das ist möglich«, sagt er. »Wissen Sie, dass Ihr Freund der Viele-Welten-Interpretation gar nicht anhängt, sondern weitergehende Theorien zum Wesen der Zeit verfolgt?«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
Schilf nickt.
»Es spielt keine Rolle«, sagt Oskar plötzlich heftig. »Er sucht nach neuen Methoden, um sich selbst aus dem Weg zu gehen.«
Sie schweigen, bis der letzte Satz vollständig verklungen ist. Während Schilfs Körper die Sofaecke füllt wie eine weiche Masse, die sich in jeder beliebigen Haltung wohlfühlen kann, hat Oskar die Beine ausgestreckt und sieht unter gesenkten Lidern vor sich hin.
»Lieben Sie Sebastian?«, fragt der Kommissar schließlich.
»Eine ziemlich gute Frage«, sagt Oskar, ohne seine Haltung zu ändern.
In der anschließenden Pause steht Schilf auf. Das Zigarillo im Mundwinkel, tritt er in die Dachgaube, wo ihm die Aussicht für einen Moment den Atem verschlägt. Über die Treppe zu Oskars Wohnung muss er bis hoch in den Himmel gestiegen sein. Aus der Vogelperspektive sieht er die Stadt als ein Schaltbrett aus funkelnden Lichtern. Reihen von Dioden verbinden sich zu einem Netz kommunizierender Linien, Schriftzeichen ähnlich.
Erpressung hin oder her, denkt der Kommissar. Vielleicht ist Sebastian, indem er Dabbeling tötete, zum zweiten Mal über die Mauer gesprungen. Vielleicht hat er heimlich gehofft, Oskar noch immer dahinter zu finden, und ist zu Tode erschrocken, als er sah, dass er richtig lag. Jetzt flieht er ins Nirgendwo.
Seit sein persönlicher Bruch den Kommissar von sich selbst trennt, hat er viel darüber nachgedacht, ob der Mensch nicht an jedem denkbaren Schicksalsschlag irgendwie beteiligt ist. Ob es nicht so
Weitere Kostenlose Bücher