Schilf
Der Kommissar will sich aufrichten und fällt zurück. »Tun Sie mir noch einen Gefallen?«
Im Liegen fingert er in seiner Gesäßtasche nach dem Schachcomputer. Als das Display aufleuchtet, geht Oskar neben der Couch in die Knie.
»Was haben wir denn da?«
Eingehend betrachtet er die vierundsechzig Felder. Schilf weiß genau, was er sieht. Einen katastrophalen, asymmetrischen Aufbau, bei dem sich alles, was noch lebt, auf einer Hälfte des Spielfelds drängt. Erst nach geraumer Zeit hebt Oskar den Blick.
»Bemerkenswert«, sagt er. »Sie spielen Schwarz gegen den Computer.«
»Keineswegs«, sagt Schilf. »Ich spiele Weiß.«
Oskar zieht die Brauen zusammen und versenkt sich erneut in das Spiel.
»Ich wiederhole mich, Herr Kommissar«, sagt er dann. »Sie sind ein ungewöhnlicher Mann. Anscheinend lieben Sie es, sich selbst für die schmale Chance auf einen Sieg zu zerstören. Wollen Sie mir etwas sagen mit dieser Partie?«
Schilf schüttelt den Kopf, in dem eine langsam abkühlende Kugel von einer Seite zur anderen rollt. Er reicht Oskar den minenlosen Stift.
»Sie wollen, dass ich das hier für Sie zu Ende bringe?« Oskar dreht den Stift zwischen den Fingern. »Sie wollen zusehen, wie ich Ihr Spiel für Sie gewinne?«
Schilf antwortet nicht. Oskar streicht sich das Kinn, sieht sich um. Schließlich legt er den Schachcomputer auf den Bauch des Kommissars und neigt ihn so, dass dieser das Display sehen kann.
»Springer hierhin. Durch die Gabel fällt die schwarze Dame, und Ihr Turm wird beweglich.« Der Stift tippt auf die Felder. Bei jeder Berührung wackelt der kleine Computer auf den Hemdknöpfen des Kommissars. »Bauer erreicht die Grundlinie, verwandelt sich, Schach. Der König muss ausweichen. Turm daneben. Et voilà .«
Congratulations , blinkt der Computer.
»Der schwarze König matt«, sagt der Kommissar.
»Ja«, sagt Oskar. »Matt.«
»Sie sind ein Genie.«
»Erzählen Sie mir nicht, dass das nicht so geplant war.«
»Ich spiele erst seit vier Wochen.«
»In dem Fall«, sagt Oskar und kneift die Augen zusammen, als wollte er den Blick auf einen bestimmten Punkt hinter der Stirn seines Gegenübers fokussieren, »sind zweifellos Sie das Genie. Können Sie aufstehen?«
Schilf wischt sich noch einmal das Gesicht und gibt das Tuch zurück. Mit einer Hand auf Oskars Schulter erhebt er sich. Als sie mitten im Zimmer stehen, greift er nach der Kordel am Bauch der Krähe.
»Die ist schon lang kaputt«, sagt Oskar.
Im Flur steigt Schilf in seine Schuhe und lässt die Schnürsenkel offen. Mit einem kräftigen Ruck hat Oskar die Wohnungstür über den Teppich gezogen und hält sie dem Kommissar auf.
»Ich denke, jetzt wissen Sie alles, was Sie wissen müssen«, sagt er.
Das Lächeln, mit dem sie sich voneinander verabschieden, wird von leisem Bedauern getrübt.
Der Wind hat sich gelegt. Der See sieht so glatt und fest aus, dass der Kommissar Lust bekommt zu probieren, ob er inzwischen übers Wasser gehen kann. Der Kies unter den Sohlen grüßt jeden neuen Schritt. Schilf streckt einen Arm zur Seite und malt sich aus, wie Julia im Gehen den Kopf an seine Schulter legen und etwas Nettes über die aufreißenden Wolken und das Zwinkern der Sterne sagen würde. Schrill warnt ein Vogel und überlässt sich, als nichts weiter geschieht, wieder dem Schweigen und der Unsichtbarkeit. Der Kommissar geht zum Bahnhof; es ist höchste Zeit für den letzten Zug.
Den kleinen Schachcomputer hat er auf Oskars Couch zurückgelassen. Er braucht ihn nicht mehr.
Das Leben, denkt Schilf, ist eine Geschichte mit vielen Stockwerken. Oder mit Kapiteln, von denen sich eins nach dem anderen geräuschlos schließt.
Siebtes Kapitel, in dem der Täter gestellt wird. Am Ende entscheidet der innere Richter. Ein Vogel steigt auf.
1
S chon an dem Tag, als Schilf seine neue Freundin kennenlernte und sie bei McDonald’s nach Kellner und Speisekarte verlangte, hat er beschlossen, sie niemals einem Bekannten vorzustellen. Nicht, dass er sich ihrer schämen würde. Aber er fürchtet, dass sie den Blicken einer dritten Person nicht standhalten und sich in Luft auflösen könnte. Ihrem Besuch sieht er mit gemischten Gefühlen entgegen.
Obwohl er sich zusammenreißt und kräftig ausschreitet, kommt er nur langsam voran, als ginge er auf einem Laufband gegen die Fahrtrichtung. Den Freiburger Bahnhof erreicht er mit einigen Minuten Verspätung. In der Eingangshalle stürmt ihm eine Frau entgegen. Als Schilf beiseitetritt, um ihr
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