Schilf
ist, dass man sich immer nur selbst erpresst.
Unten erkennt er die leuchtenden Flecken der Plätze Cornavin, Montbrillant und Reculet. Dazu das dunkle Band der Rhône, das farbenfroh blinkende Mont-Blanc-Ufer und dahinter die alles vertilgende Schwärze des Genfer Sees. Wie auf Kommando beginnt der Schmerz erneut zwischen seinen Augen zu wühlen, wird heißer, heller, rückt die Stadt näher heran und taucht sie in gleißendes Licht.
Drei Personen, klein wie Spielzeugfiguren, schlendern über einen Pier zur Fontäne des Jet d’Eau; zwei von ihnen dicht beieinander, wahrscheinlich Arm in Arm. Die dritte, kleinere, eilt voraus wie ein fröhlicher Hund. Alle drei sind blond. Trotz der Entfernung sieht sie der Kommissar mit ungewöhnlicher Schärfe, entziffert ihre ausgestreckten Zeigefinger und die glücklichen Gesichter, die sich dem Himmel zukehren, um den weißen Strahl am Ende des Stegs in ganzer Höhe erfassen zu können. Ein Turm aus Wasser, in dem sich die Sonne in allen Farben des Regenbogens bricht.
Sieh nur, Papa, der See wirft sich selbst in die Luft!
Sprühnebel durchnässt ihnen die Kleider. Es ist warm.
Was der Kommissar sieht, ist ein Erinnerungsphoto, eine Postkarte wie jene, die an seinem Kühlschrank kleben. Mit einem wesentlichen Unterschied. Die Rückseite dieser besonderen Karte ist nicht leer. »Schön war’s!«, steht darauf. Oder: »Wir waren hier!«
Schilf beschließt, diese Karte an sich zu nehmen. Sebastian hätte bestimmt nichts dagegen. Ein Mann, eine Frau, ein fröhliches Kind. Er wird sie über das Loch in seiner Biographie hängen. Ein Leben reißt so leicht. Etwas schlingert, gerät aus der Spur, und schon ist aus drei Menschen einer geworden, und auch den gibt es nur noch zur Hälfte. Eine Zeit lang hat sich der Kommissar im Erinnern geübt, danach trainierte er das Vergessen. Der Gedanke an das eigene, zu Ende gegangene Leben verursachte ein Leid, das sich nicht ertragen ließ. Jetzt stellt er fest, dass nichts leichter ist, als sich eine fremde Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen.
Wer sterben will, muss vollständig sein, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
»Sebastian zu kennen«, sagt Oskar irgendwo im Raum hinter seinem Rücken, »hat mich gelehrt, die Willkür der Götter zu fürchten.«
Schilf hat die Augen geschlossen. Seine Finger umfassen die Kante des Fensterbretts, als befände er sich im Mastkorb eines sturmgebeutelten Schiffs.
»Gestern noch hätte ich behauptet, eins mit Bestimmtheit zu wissen«, sagt Oskar. »Nämlich dass ich mein Leben für ihn geben würde.«
»Und heute?«, fragt Schilf zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Heute bin ich ein alter Mann.«
Oskar holt Luft. Als er weiterspricht, ist seine Stimme noch tiefer. Kalt.
»Wussten Sie, dass Sebastian gestern Abend bei mir war?«
»Es war zu vermuten.«
»Ich habe ihm angeboten, mit mir das Land zu verlassen.«
»Und er hat abgelehnt?«
»Er hat alles abgelehnt, was ich zu geben hatte. Es scheint, dass er sich endlich entschieden hat. Ich kann nichts mehr für ihn tun.«
»Sie irren, Oskar. Sie werden etwas für ihn tun. Das schwöre ich Ihnen.«
Als der Kommissar die Augen öffnet, ist die Stadt auf ihren angestammten Platz zurückgekehrt. Es ist Nacht. Kein Mann, keine Frau, kein fröhliches Kind. Nicht einmal die Wassersäule des Jet d’Eau ist von hier aus zu sehen. Nur der hartnäckige Wind ist noch da und rüttelt an den Balken des Dachs. Schilf dreht sich um. Oskar steht vor ihm und hat die Arme ausgestreckt, als wollte er ihn umarmen. Der Kommissar würde zurückweichen, wenn hinter ihm nicht die Dachschräge wäre und noch dahinter ein Abgrund, der freie Fall. Ihre Blicke treffen sich.
Eine Welle von frischem Körpergeruch. Gestärkte Baumwolle, ein teures Rasierwasser, ein merkwürdiges Glück. Ein Arm fasst den Kommissar bei den Schultern. Oskar zieht ihn zu sich heran.
»Kommen Sie. Ich helfe Ihnen.«
Er dirigiert den Kommissar zurück auf die Couch. Bettet ihm den Kopf auf die Armlehne und presst ihm etwas Feuchtes, Kühles in den Nacken. Als Schilf an sich heruntersieht, ziert ein großer, roter Fleck seine Brust. Er fasst sich ins Gesicht: Nasenbluten. Auch auf Oskars weißen Manschetten sitzen rote Spritzer.
»Ich habe Ihr Hemd beschmutzt«, sagt der Kommissar.
»Wer ein weißes Hemd trägt, ist Arzt.« Oskar wischt sich das Blut von den Fingern und reicht Schilf das feuchte Tuch. »Jedenfalls glaubte ich das als Kind.«
»Sie haben mir sehr geholfen.«
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