Schilf
Tonbandgerät ein. Sie belehrt den Mann über sein Recht zu schweigen, zu lügen oder sich mit einem Rechtsverdreher zu verbünden. Der Mann will von seinen Rechten nichts wissen.
Er diktiert ein Geständnis und sagt, dass er erpresst worden sei. Die Katze hält in der Bewegung inne, als ein Sperling auf der Terrasse landet. Die Frau lässt den Mann ausreden und informiert ihn dann über den Stand der Ermittlungen. Keine Spuren im Wagen. Der Sohn weiß nichts. Die Leute am Rasthof wissen nichts. Bloß zwei Anrufe von unterdrückten Rufnummern auf seinem Handy, und das könnte er, mit Verlaub, durchaus selbst gewesen sein. Der Sperling beschließt, sich einen anderen Rastplatz zu suchen. Die Katze tut so, als würde sie das nicht interessieren. Der Mann ruft nun doch etwas von Rechten und Gerechtigkeit. Die Frau blättert in der Akte und sagt dann:
Sie können gehen.
Der Mann ist fassungslos.
Was haben Sie gesagt?
Sie werden die Stadt nicht verlassen und sich bereithalten.
Die Frau zieht die Miene einer Sachbearbeiterin über und macht Notizen. Der Mann rührt sich nicht von der Stelle.
Nehmen Sie mich gefälligst in Untersuchungshaft!
Die Katze lächelt. Der Zug bohrt sich in die nächste Regenwand.
Wenn Sie schon mein Leben in Stücke hauen, schreit der Mann, dann behalten Sie die Überreste wenigstens da!
Die Frau im Blümchenkleid füllt die Lungen und brüllt, dass es durch sämtliche Korridore der Polizeidirektion hallt:
Raus!
Weil der Zug gerade steht, springt Schilf hinaus, läuft aufgebracht über den Bahnsteig und erlaubt dem Regen, sein Gesicht zu kühlen. Über der Tür eines gemauerten Häuschens liest er »Weltraum« statt »Warteraum«. Sein Gefühl sagt ihm, dass er besser daran getan hätte, Sebastian einfach außer Landes zu bringen. Der Verstand behauptet, dass es richtig war, den Weg des Gesetzes zu beschreiten.
So steht Schilf im Regen und wünscht beide, Gefühl und Verstand, gleichermaßen zur Hölle.
Die gute Nachricht besteht darin, dass er in Basel aus dem Zug gesprungen ist, wo er ohnedies hätte umsteigen müssen. Im Intercity sitzt ihm ein schnauzbärtiger Mittfünfziger gegenüber, der in ein Buch schaut, ohne die Augen zu bewegen, und bei Delémont noch keine einzige Seite umgeschlagen hat. Er sieht genauso aus wie der Kerl mit den Filzstiften.
Falls mein Bewusstsein die Welt erschafft, fehlt es ihm offensichtlich an Phantasie, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Er schluckt noch zwei Ibuprofen. Bis bald mal wieder, sagt der Schnauzbärtige in Genf.
Das Wasser der Rhône ist zu schwarzen Wellenklingen geschliffen, die in langen Reihen stadteinwärts ziehen. Für ein sommerliches Einundzwanzig-Uhr-Dreißig ist es ungewöhnlich dunkel. Entlang der Uferstraße rennt gelbes Licht von Mast zu Mast und über die Brücke Richtung Innenstadt. In dem ungemütlichen Wetter sind der Kommissar und die Elemente fast allein miteinander.
An einem Taxifahrer probiert Schilf ein Où-se-trouve und erntet einen mürrischen Fingerzeig, der ihn ohne Umweg in die richtige Gasse bringt. Er tritt in den Hauseingang und drückt mit nassem Finger die Klingel. Für die vielen Treppen lässt er sich Zeit. Ein erleuchteter Türspalt unterm Dach ersetzt die Begrüßung durch den Gastgeber. Übereinandergelegte Teppiche sperren gegen das Öffnen der Tür.
Was Schilf dahinter erwartet hat, weiß er erst, als er das Gegenteil vorfindet. Kein minimalistisch eingerichtetes Penthouse, keine Panoramafenster, keine japanischen Möbel auf spiegelndem Parkett. Stattdessen die orientalische Überfülle einer Höhle, die seit den jungen Jahren ihres Bewohners nicht mehr entrümpelt worden ist. Einer spontanen Eingebung folgend, zieht Schilf die Schuhe aus. Auf Socken betritt er einen Raum, der mit Möbeln vollgestellt ist wie ein Antiquitätengeschäft. Wo Platz ist, bedecken Postkarten und Zeitungsausschnitte die Wände. Regalbretter biegen sich unter der Last eines Bücherdurcheinanders. Überall Porzellanfiguren, zeigerlose Armbanduhren, Glaskugeln, ausländische Münzen. Von der Deckenlampe hängt eine ausgestopfte Krähe, deren Schwingen durch das Ziehen an einer Kordel bewegt werden können. Neben dem Ledersessel liegt eine Kinderzeichnung griffbereit auf einer Seemannstruhe. Ein kleines Strichmännchen mit gelben und ein großes mit schwarzen Haaren, ein gewaltiges, gemeinsames Lächeln, unterschrieben mit einem ungelenken »L«.
Inmitten seines Privatmuseums sitzt der Hausherr mit gekreuzten
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