Schilf
existieren, in Paralleluniversen nämlich. Die Entwicklung jedes einzelnen Universums mag vorherbestimmt sein. Aber frei sind wir durch die Möglichkeit, uns mit jeder Entscheidung eine der vielen Welten auszusuchen.«
»Meine Damen und Herren, eine physikalische Begründung der Willensfreiheit«, frohlockt der Moderator, dessen Brillengläser das Scheinwerferlicht reflektieren. Er wirkt so glücklich, als sähe er gerade die strahlende Miene des Programmchefs vor sich.
»Und das, obwohl Naturwissenschaft und Determinismus klassischerweise …«
»Dann will ich wissen«, fährt Oskar dazwischen, »warum wir uns nicht durch einen schlichten Willensakt für ein Universum entscheiden, in dem der Zweite Weltkrieg niemals stattgefunden hat? Das wäre doch nett.«
Sebastian ist die Röte ins Gesicht gestiegen. Er rutscht auf den vorderen Rand der Sitzfläche und richtet sich auf.
»Weil wir dem Grundsatz der Selbstkonsistenz unterliegen«, sagt er. »Und das weißt du ganz genau! Andernfalls würden wir uns nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in einem Zustand anwachsender Unordnung auflösen.«
»Genau das tun wir«, sagt Oskar. »Und wenn man dich anschaut, könnte man meinen, die Auflösung geht manchmal besonders schnell.«
Er schaut Sebastian herausfordernd ins Gesicht und tippt sich an die Stirn.
»Entschuldigen Sie mal«, sagt der Moderator, »wir können hier nicht …«
Das Getöse im Saal übertönt seinen Einwurf. Mit einer ungeduldigen Handbewegung verbittet sich Oskar jede weitere Störung. Er wendet der Kamera sein vollendetes Profil zu, um am Moderator vorbei und nur noch zu Sebastian zu sprechen. Das Zucken in seinem linken Fuß hat sich verstärkt. Plötzlich wirkt seine Gelassenheit wie eine schlechte Maskerade. Er sieht aus wie ein Mann, der unter seiner glatten Oberfläche eine ungeheure Wut verbirgt.
»Wenn jede Entscheidung von ihrem Gegenteil begleitet wird«, sagt er, »dann ist es keine. Weißt du, was deine Begründung des freien Willens ist? Eine Lizenz, sich wie ein Schwein zu verhalten.«
»Ich muss schon bitten …«, sagt der Moderator.
»Das ist …«, versucht es Sebastian.
» Ein Universum«, sagt Oskar. »Ohne Fluchtmöglichkeit. Das solltest du erforschen. In dem solltest du leben. Und Verantwortung für deine Entscheidungen übernehmen.«
»Das ist keine wissenschaftliche Argumentation«, ruft Sebastian am Rand der Beherrschung. »Das ist moralischer Dogmatismus!«
»Um einiges besser als physikalisch legitimierte Unmoral.«
»Kein Wort mehr!«, schreit Sebastian.
»In deinen Doppelwelten«, sagt Oskar mit fiebriger Intensität, »lebst du ein Doppelleben. Und tust so, als könntest du eine Handlung vornehmen und zugleich auch nicht.«
Unbarmherzig zeigt eine Großaufnahme, wie sich Sebastians Adamsapfel beim trockenen Schlucken hebt und senkt. Der Aufruhr im Publikum hat sich erneut gesteigert. Ein Gast reckt die Faust, ohne dass klar wird, gegen wen oder was.
»Ich werde es in Orwells Worten ausdrücken«, sagt Oskar und steht auf.
Das Mikrophon hat er auf dem Glastisch liegen lassen. Er richtet einen Zeigefinger auf Sebastian und sagt etwas, das in dem Durcheinander nicht zu verstehen ist. Hilflos bewegt der Moderator die Lippen. Noch einmal sagt Oskar etwas Unverständliches, dann erstarrt das Bild.
Dem Kommissar ist heiß geworden. Er hat nach der Maus gegriffen, den Videoclip angehalten und sucht nach einer Möglichkeit, die letzten Sekunden noch einmal ablaufen zu lassen.
»So geht das aber nicht«, sagt die Bibliothekarin.
Schilf fährt zusammen, als hätte man ihm ein Messer an die Kehle gesetzt. Ein Schatten fällt über die Platte des Arbeitstischs.
»Sie können hier keine Filme runterladen. Die Rechner sind für Recherche da.«
Dieses Land ist aus Verboten errichtet wie ein Kartenhaus aus Karten, denkt der Kommissar. Vielleicht hätte ich mich damals bei der anderen Seite bewerben sollen.
»Das ist eine wissenschaftliche Sendung«, sagt er laut. »Ich bin von der Polizei.«
»Und ich übe das Hausrecht aus«, sagt die Bibliothekarin. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, beugt sie sich vor und schließt mit schnellem Tastendruck die geöffneten Fenster. Schilf muss seinen Stuhl verlassen, um Abstand zwischen sich und den Körper der Frau zu bringen. Ihre Lider sind mit einer dicken Schicht violetter Farbe bestrichen.
»Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
»Nein, danke«, sagt der Kommissar.
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