Schilf
auszieht. Sie knöpft sich die Bluse so unbefangen auf, wie andere Frauen ihre Handtasche öffnen. Die unzähligen Augenpaare, die Julias Körper jahrelang in aller Ausführlichkeit betrachtet haben, entheben den Kommissar der Verpflichtung, heilige Scheu zu empfinden. Er kann einfach hinsehen.
Wenn ihre Kleider sorgfältig gefaltet über der Stuhllehne hängen, rührt ihn ihre Nacktheit mehr, als dass sie ihn herausfordert. Sobald sie sich aber mit dem ganzen Leib an ihn schmiegt, liebt er sie mit aller Leidenschaft und Dankbarkeit, zu der er noch fähig ist. Liebt sie so sehr, dass alles aufhört, der Schmerz, die Grübeleien, der ganze menschliche Zwang zur permanenten inneren Berichterstattung über die eigene Existenz. Von Anfang an war Julia in der Lage, den Beobachter zum Schweigen zu bringen. Für ein paar Minuten kehrt Ruhe ein. Endlos wie die Farbe Schwarz. Schön wie eine Anleihe auf den Tod.
Danach ziehen sie die Jalousien hoch, trinken Kaffee an der geschlossenen Balkontür und stoßen die Tassen gegen die Scheibe, um dem Montagvormittag zuzuprosten. Auf der Straße scharrt ein Kind auf blechernen Rollschuhen vorbei, die seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt werden. Zwei Tauben streiten um eine Walnuss, die keine von ihnen öffnen kann. Schilf blinzelt ins gleißende Licht, bis sich die beiden Tauben als Krähen entpuppen, als Wintervögel, Trauervögel, hereingeschlüpft durch einen Riss in dem bunt bemalten Vorhang, der sich Sommer nennt. Für ein paar Sekunden sieht er die Bäume als schwarze Skelette gegen einen bleichen Himmel stehen; sieht eine karge Ebene, auf der sich die Krähen zu Tausenden sammeln; sieht sie auffliegen und die Sonne verdunkeln. Die Sendepause ist vorbei, sein Kopf ist ganz der Alte.
Mit einem wohligen Laut lehnt sich Julia in seinen Arm.
»Geh nicht weg«, flüstert Schilf.
»Weg war ich schon«, sagt Julia. »Jetzt bin ich da.«
Sie blickt ihn aus Tiefseeaugen an, zieht die Brauen hoch und die Mundwinkel auseinander wie eine Schauspielerin in einem Stummfilm. Schilf legt ihr eine Hand auf den Kopf, schließt die Augen und versucht, ihre Gedanken zu lesen.
»Bald«, sagt er, »werden wir einander pflegen wie eine Erinnerung, die unbequem, aber notwendig ist.«
Die Türklingel lässt sie zusammenfahren. Draußen steht eine junge Polizeimeisteranwärterin und hat es eilig, wieder wegzukommen. Zu spät merkt Schilf, dass er keine Hose trägt. Er nimmt den Umschlag entgegen und hält sich im letzten Moment davon ab, dem Mädchen ein Trinkgeld zu geben. »Eilt« steht in roten Lettern auf dem Packpapier.
Die Tasten des Videorecorders tauschen störrisch die Plätze, bis Julia hinzukommt und den Kommissar beiseitedrängt. Gehorsam schluckt das Gerät die Kassette.
»Beweismaterial?«, fragt Julia und macht es sich mit ihrer Tasse vor dem Fernseher bequem.
Schilf nickt.
»Der Mörder und sein bester Freund«, sagt er, als das Podium von Zirkumpolar erscheint.
»Und wer ist wer?«
Darauf gibt der Kommissar keine Antwort.
Er sieht die Sendung gern zum zweiten Mal. Auf dem größeren Bildschirm wirkt die Präsenz der beiden Männer noch stärker. Gebannt verfolgt Schilf jeden Blick und jede Geste, beobachtet Oskars raubtierhafte Eleganz und Sebastians nervöse Wachsamkeit, registriert die Schwingungen des wachsenden Spannungsfelds. Julia gähnt und langweilt sich.
» Ein Universum«, sagt Oskar. »Ohne Fluchtmöglichkeit. Das solltest du erforschen. In dem solltest du leben.«
Als es auf dem Podium lebhafter wird, richtet Julia sich auf.
»Worüber streiten die?«
»Das ist keine wissenschaftliche Argumentation«, ruft Sebastian. »Das ist moralischer Dogmatismus!«
»Warte mal«, sagt der Kommissar.
Und fährt die Lautstärke hoch. Ein Wasserglas trifft den Glastisch mit der Wucht eines Pistolenknalls.
»In deinen Doppelwelten lebst du ein Doppelleben«, sagt Oskar.
Mit einem Aufschrei presst Julia beide Hände auf die Ohren.
»Was soll denn das?«, ruft sie wütend.
In Großaufnahme bewegt sich Sebastians Adamsapfel auf und nieder. Schilf fasst seine Freundin an den Handgelenken und zwingt sie, die Ohren freizugeben.
»Hör zu.«
»Ich werde es in Orwells Worten ausdrücken«, sagt Oskar.
Als er aufsteht, schwillt das Raunen im Publikum zu einem Lärm, der den Boden der Wohnung beben lässt. Das Rascheln von Kleidern. Oskars Ledersohlen auf dem hölzernen Podest. Der kann doch nicht, zischt die Stimme des Moderators. Oskars Mikrophon ist auf dem Glastisch
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