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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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österreichischen Streifenwagens und schaut in eine Landschaft, die aussieht, als würde man ihr jeden Morgen mit dem Rasenmäher eine ordentliche Kurzhaarfrisur verpassen. Als Rita ihn fragte, ob er Lust auf einen Trip ins Bregenzer Land verspüre, stellte er sich blauen Himmel, weiße Wolken und grüne Wiesen vor. All das ist vollumfänglich vorhanden. Aber Schnurpfeil hat auch an den Sicherheitsgurt zwischen Ritas Brüsten gedacht und an braune Augen, aus denen die Sonne lachte. Sein »Ja« war so begeistert, dass Rita ihn seltsam anblickte. Schnurpfeil fand nichts dabei. Seltsame Blicke sind das Geringste, woran er sich beim Umgang mit der Kommissarin gewöhnen musste.
    Jetzt sitzt nicht Rita neben ihm, sondern ein österreichischer Polizist, der mit seinem Bauch kaum hinter das Lenkrad passt. Unausgesetzt schimpft er auf die Touristenschwärme, die ihn und seine Landsleute ernähren. Die Bregenzer Innenstadt ist voller Menschen, die den Autos so widerwillig Platz machen, als hätten sie mit der Kurtaxe auch für eine alltagsfreie Umgebung bezahlt. Wenigstens kann Schnurpfeil sich freuen, dass er nicht selbst den Weg zu einer Ortschaft suchen muss, deren Namen nach einer unanständigen Tätigkeit klingt. Ich gwigge, du gwiggst, er gwiggt. Auf der Rückbank liegen seine grüne Polizeimütze und die weiße des Österreichers einträchtig beisammen. Ein Symbol für das Funktionieren von internationaler Amtshilfe.
    Als der Wagen die Ausläufer des Pfändermassivs hinaufkriecht und seine Schnauze schwerfällig um die Kurven schwenkt, entlässt der Österreicher einen Stoßseufzer, der nach Jagdwurst riecht. Die Schönheiten der Landschaft kommentiert er, als hätte er sie selbst erfunden. Schnurpfeil versteht nicht, wie man auf eine Gegend stolz sein kann, die schon für eine gewöhnliche Postkarte zu kitschig ist. Wer hier nicht in Trachten geht, stört. Vielleicht wäre es trotzdem die richtige Umgebung gewesen, um seine Lebenspläne mit Rita zu besprechen. Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als der Kommissarin die Informationen zu bringen, die sie braucht. Schnell, gründlich, komplett; mit einem Satz: wie stets zu ihrer vollen Zufriedenheit.
    Endlich holpert der Wagen über einen Feldweg und kommt im Schatten unter einer deutschen Eiche zum Stehen. Der Österreicher trocknet sich den Nacken mit einem karierten Taschentuch und klappt den Fahrersitz in Liegeposition, während Schnurpfeil aussteigt und ohne Umweg auf das Holzhaus zugeht. Mit seinem breiten Frontbalkon und den geschnitzten Schnörkeln am Giebel gleicht es einer mächtigen Kuckucksuhr. Auf der Wiese ragt ein Turm aus Holzpfählen, gestapelten Wasserkästen und Seilen so geheimnisvoll in den Himmel, dass der Polizeiobermeister gar nicht erst versucht, sich nach dem Sinn dieser Konstruktion zu fragen. In einiger Entfernung rennt eine Gruppe Kinder am Waldrand entlang.
    Drinnen riecht es nach Tee und Schuhen. Die Rezeption und der Speisesaal sind menschenleer. Schnurpfeil öffnet und schließt nummerierte Türen, schaut in Kammern, die mit Stockbetten vollgestellt sind, bis er in einem etwas größeren, schäbig möblierten Raum auf zwei Jugendliche stößt. Sein Eintreten versetzt sie in helle Aufregung. Der dicke Junge starrt mit herausquellenden Augen auf die vorgezeigte Dienstmarke, als wäre in seinem Schädel nicht genug Platz für so viel Konzentration. Schnurpfeil beschließt, sich an das Mädchen zu halten. Ihre Haare sind an den Seiten abrasiert und hinten zu einem Zopf gebunden. Beim Sprechen schlägt ihr die Kugel eines Zungenpiercings gegen die Zähne. Als der Polizeiobermeister begreift, dass er keine Ferienkinder, sondern zwei der verantwortlichen Gruppenleiter vor sich hat, wechselt er unauffällig zum »Sie«.
    An Liam kann man sich durchaus erinnern. Sein Vater erregte einiges Aufsehen, als er den Jungen ohne Angabe von Gründen aus dem Lager abholte. Das Mädchen hat dem armen Buben beim Packen geholfen. Er hielt den Kopf gesenkt, faltete jede Socke einzeln und bestand darauf, noch einmal sein Bett zu machen, genau so, wie sie es alle miteinander am ersten Tag gelernt hatten.
    Wer den armen Buben denn hier abgeliefert habe?
    Die beiden Gruppenleiter drehen die Augen nach oben und ziehen die Mundwinkel herunter. Keine leichte Frage. Am Anreisetag wurden gut hundert Kinder nach Gwiggen gebracht. Es könnte der Mann gewesen sein, der ihn geholt hat. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls war er nicht besonders groß. Und auch nicht

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