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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Platz zu machen, bleibt sie vor ihm stehen. Der Kommissar nimmt ihre Hände und hat ein schlechtes Gewissen. Im ersten Augenblick hat er sie nicht erkannt, weil er unbewusst mit Maike rechnete. Endlich findet er eins der einfachen Wörter, die Julia so gerne mag: »Hallo.«
    Sie lacht und hängt sich bei ihm ein. Gepäck hat sie nicht dabei; dafür hat sie ihm Blumen mitgebracht, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Drei braune, samtige Kolben schwanken auf ihren Halmen. Sie erinnern an Mikrophone, die versehentlich ins Bild ragen.
    »Schilf«, sagt Julia und stößt ihn in die Seite. »In etwas fortgeschrittenem Alter.«
    »Hast du die Postkarte dabei?«
    »Du hast mir geschrieben?«
    »Gestern. Es war wichtig.«
    »Gestern war Sonntag, Schilf. Wie soll ich da heute früh die Karte haben?«
    Wie gewohnt hat sie recht. Mit Erleichterung stellt der Kommissar fest, dass ihn der Ausgang seines Postkarten-Experiments immer weniger interessiert, je länger Julia vor ihm steht. Er legt ihr den Arm um die Schultern, wie er es am Ufer des Genfer Sees geübt hat, und senkt den Kopf, um den Duft ihrer Haare einzuatmen. Von Gerüchen, hat er einmal gehört, kann man nicht träumen.
    Die durchbrechende Sonne verwandelt die Stadt in eine Landschaft aus Silber. In der Nacht muss es noch einmal geregnet haben; jetzt glänzen die Pfützen wie flüssiges Metall, und vor den Lichtblitzen vorbeigleitender Windschutzscheiben muss Schilf die Augen schließen. Ein Greis in zerrissenen Hosen grüßt lässig zur anderen Straßenseite hinüber, auf der sich absolut niemand befindet. Ein junges Mädchen steht reglos an einer Straßenecke, hält den Kopf schief und umklammert einen Regenschirm, als hätte es vergessen, wohin es eben noch gehen wollte.
    Der Kommissar beschließt, sich zu freuen. Weil es schön ist, dass da jemand ist, der morgens aufsteht, um ihn besuchen zu kommen. Es macht ihm Freude, Julia ins Gesicht zu sehen und ihre lustigen, kurzfingrigen Hände zu beobachten, die immer in Bewegung sind. Beim Anblick dieser Hände begreift er, warum manche Leute an das Gute im Menschen glauben. Einer Spezies, der jemand wie seine Freundin angehört, können alle Scheußlichkeiten nur als Folge eines kolossalen Missverständnisses unterlaufen.
    Schilfs gute Laune endet abrupt, als er hinter der Scheibe eines Zeitungskastens Sebastians Gesicht erkennt. In den Schlagzeilen liest er »Medizinerskandal«und »auf freiem Fuß« und beschleunigt unwillkürlich seinen Schritt.
    »Wie geht’s deinem Fall?«, fragt Julia im Tonfall eines Handwerkers, der gekommen ist, um ein Problem zu lösen.
    Zu seiner eigenen Überraschung muss Schilf eine Weile überlegen, bevor er antworten kann. Sebastian, Oskar, viele Welten und ein geköpfter Radfahrer ordnen sich zu einem beinahe logischen Muster und fallen in einem bunten Wirbel wieder auseinander. Der Kommissar kennt den Mörder und den Entführer. Das Dumme ist nur, dass Dabbelings Tod trotzdem keinen Sinn ergibt.
    »Es fehlt nur noch ein Detail«, sagt er, während er die Tür des mehrstöckigen Mietshauses aufschließt, in dem seine Dienstwohnung liegt. »Leider handelt es sich um den tragenden Pfeiler.«
    »Wollen mal sehen«, sagt Julia.
    Die enge Wohnung hat für heute ihre Beamtenmiene abgesetzt und liegt freundlich im Zebraschatten der schräg gestellten Jalousie. Julia spaziert herein, als käme sie gerade von einem Stadtausflug nach Hause zurück, leert eine Wasserflasche ins Spülbecken und stellt die Schilfkolben hinein. Ein wenig zu spät stellt sich der Kommissar mit ausgebreiteten Armen in die Zimmermitte, ruft ein »Willkommen!« und kommt sich albern dabei vor. Erst heute Morgen hat er vor dem Badezimmerspiegel ein Wort für seine dunkel verfärbten Tränensäcke und das Netz aus Falten gefunden, das seine Augen umgibt. Elefantengesicht. Für einen Mann mit Elefantengesicht, denkt er, ist es nicht leicht, charmant zu sein.
    Aber Julia lacht ihr übliches Lachen und zieht den Kommissar auf die Couch. Mit beiden Händen umfasst sie seine Rechte und presst sie an die Lippen, als wäre er soeben verstorben.
    Seit dem Bruch beschränkt sich Schilfs Interesse an Frauen im Wesentlichen auf ihre Glaubwürdigkeit im Zeugenstand. Daran hat auch Julias Erscheinen auf den letzten Metern der Wegstrecke nicht viel geändert. Dessen ungeachtet hat sein Körper mit ihrem ein Abkommen getroffen, das von beiden Parteien zur allseitigen Zufriedenheit erfüllt wird. Er schaut ihr gern zu, wenn sie sich

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