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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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liegen geblieben. Er ist schlecht zu verstehen. Mit dem Zeigefinger deutet er auf Sebastian.
    »Jetzt«, sagt Schilf und lehnt sich vor.
    Oskars Stimme wird von den Saalmikrophonen eingefangen. Es klingt, als spräche er von weit her.
    »Das ist Dabbeling«, hört der Kommissar ihn sagen.
    »Mach endlich aus«, befiehlt Julia.
    Schilf hat die Fernsteuerung fallen lassen; Julia greift danach und hält das Band an. Auf dem Bildschirm erstarrt der Moderator mit erhobenen Händen neben seinen Gästen, alle drei in einem zitternden Standbild vereint. Wahrscheinlich würde der Moderator als Nächstes versuchen, die Erregung der Physiker als Beweis für die Wichtigkeit seiner Sendung zu deuten. Danach würde er die Diskussion fortsetzen. Wenn Julia ihn ließe.
    Dem Kommissar ist das Blut in die Füße gesunken. Ohne es zu merken, betastet er mit allen Fingern seine kalten Wangen.
    »Ich begreife es nicht«, stöhnt er. »Mir platzt der Kopf.«
    Zufrieden zappelt sich Julia auf dem Sofa zurecht und nimmt ihre Tasse von der Lehne.
    »Ihr habt vielleicht komische Ermittlungsmethoden.«
    Als Schilf sie an der Schulter packt, schwappt Kaffee über ihre nackten Beine und hinterlässt einen Fleck auf dem Bezug der Couch.
    »He!«, schreit Julia. »Spinnst du?«
    Sogleich lässt er von ihr ab. Seine Elefantenaugen blicken ihr ins Gesicht.
    »Was«, fragt er flehend, »hat der Mann gesagt?«
    Julias Züge zeigen wahre Kunststücke der Verwandlung. Erst Empörung, dann Erstaunen. Schließlich Spott.
    »Wieso«, sagt sie. »Das war doch gut zu verstehen?«
    Ihr Blick wechselt zwischen den Augen des Kommissars hin und her. Endlich breitet sich der strahlende Glanz der Erkenntnis über ihre Miene.
    »Ach so«, sagt sie. »Du hast Orwell nicht gelesen!«
    »Und weiter?«, drängt der Kommissar.
    »Das ist doublethink «, zitiert Julia. »Der Zwang, zwei Dinge, die einander widersprechen, gleichermaßen für wahr zu halten. Bei Orwell ist das eine Praktik des totalitären Systems.«
    »Nein«, sagt Schilf.
    Es klingt wie ein Hilfeschrei. Besorgt nimmt Julia seine Hand.
    »Was ist denn? Glaubst du nicht, dass das geht?«
    »Doch, doch.«
    »Siehst du. Und der da«, sie zeigt auf Sebastian, der, im Standbild flimmernd, neben dem Moderator sitzt, »kann das anscheinend nach Meinung von dem da«, Oskar streckt noch immer den Finger aus und lächelt diabolisch, »besonders gut.«
    » Doublethink muss weg«, sagt der Kommissar.
    Er kann nicht aufhören, seine Freundin anzustarren, er braucht eine Unterlage für seinen festgefrorenen Blick. Sein Herz schlägt wie eine Buschtrommel. Der schwarze König drängt sich in die äußerste Ecke von H8. Der weiße ist über den Rand des Bretts gekippt. Spielfiguren wirbeln durcheinander, vierundsechzig Felder haben sich voneinander gelöst und schlagen klappernd auf harten Boden.
    Ist die Anwesenheit des Menschen in der Welt nicht Missverständnis genug, denkt der Kommissar, müssen auch noch akustische Missverständnisse hinzukommen?
    Und: Wenn an zwei Stellen eines Teichs Zweige aus dem Wasser ragen, können sie durchaus zum selben Ast gehören.
    Vorsichtige Finger streichen ihm über die Wange. Diesmal sind es nicht seine eigenen.
    »Haben wir den Fall gelöst?«, fragt Julia sanft.
    »Scheiße, ja«, sagt der Kommissar.

2
    F ür Polizeiobermeister Schnurpfeil ist Rita Skura die schönste Frau der Welt. Eine schönere hat es vor ihr nicht gegeben, und sie kann auch nach ihr nicht geboren werden, es sei denn, als ein gemeinsames Kind. Schnurpfeil hält sich nicht für klug. Er hat wenig erlebt und deshalb nicht viel zu erzählen. Er besitzt auch sonst keine besonderen Fähigkeiten, die ihn aus der Masse herausheben würden. Aber er weiß, dass er gut aussieht, und findet, dass er schon deshalb zu Rita Skura passt. Außerdem ist er ihr in beispielloser Treue ergeben. Und sie hat keinen Freund. Sie ist mit ihrem Ehrgeiz verheiratet, eine Verbindung, aus der sich, wie Schnurpfeil den offiziellen Besoldungstabellen entnommen hat, eines Tages ein ansehnliches Einkommen ergeben wird. Rita wird Karriere machen und immer mehr verdienen, erst genug für zwei, dann für drei oder vier. Schnurpfeil hätte nichts dagegen, zu Hause zu bleiben und einer Frau wie Rita den Rücken freizuhalten, im Gegenteil, er wäre stolz auf sie. Sein Konzept ist klar, wohldurchdacht und ohne Fehler. Er hat nur noch keine Gelegenheit gefunden, es ihr zu präsentieren.
    Der Polizeiobermeister lehnt im Beifahrersitz eines

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