Schilf
auffällig klein.
Schnurpfeil verliert sofort die Geduld. Es ist ihm schon immer schwer gefallen, Menschen mit österreichischem Tonfall ernst zu nehmen. Mit einer herrischen Handbewegung verscheucht er den Dicken vom Stuhl hinter dem Computer und greift nach einer zerfledderten Kladde, die aufgeschlagen auf einem Zeitschriftenstapel liegt. Das Heft enthält Tabellen mit Unmengen von Informationen. An- und Abmeldungen, Alter, Geschlecht, Krankheiten, Ernährungsfragen, Eingang der Vorauszahlungen. Sämtliche Einträge sind mit verschiedenen Stiften und von unterschiedlichen Händen geschrieben. Nach einigem Blättern findet der Polizeiobermeister Liams Namen unter der Nummer 27. Datum der Ankunft, keine Besonderheiten. Als er das Heft zurücklegen will, fällt ein gelber Zettel aus den Seiten.
»Für Stefan«, heißt es in rundlicher Schrift. »Nr. 27 kommt nicht, weil Grippe. Vater hat angerufen. F.«
Ob sie das geschrieben habe, fragt Schnurpfeil das Mädchen.
Dieses schüttelt heftig den Kopf. F. ist wer anders. Und die Notiz ohnehin falsch. Der arme Bub ist ja da gewesen. Nur früher wieder weg. Warum der Herr Wachtmeister so komisch guckt?
Während die Gruppenleiter den Vorfall diskutieren, lässt sich Schnurpfeil im Stuhl zurücksinken. Er öffnet und schließt die Fäuste und beobachtet das Spiel der Muskeln an seinen Unterarmen. Er denkt an den Moment, in dem er der Kommissarin Bericht erstatten wird. Vielleicht wird er behaupten, dass die vergessene Notiz schwer auffindbar in dem Zeitschriftenstapel gelegen habe. Die Kommissarin wird zu ihm aufsehen, das Haar aus der Stirn heben und ihm dabei ihre Achselhöhlen zeigen. Danke, Schnurpfeil, gut gemacht.
Das Schweigen im Raum weckt ihn aus seiner Träumerei. Der dicke Junge starrt ihn an. Das Mädchen ist verschwunden, Verstärkung holen. Minuten später ist Schnurpfeil von Kindern umringt, die alle wie Liam aussehen, dessen Photo er aus der Akte kennt. Hohe Stimmen kreischen, klebrige Hände befingern das lederne Koppel, in dem die Dienstwaffe steckt. Schnurpfeil mag keine Kinder, außer jenen, die er mit Rita Skura zeugen wird.
Er springt auf und greift sich einen langen Kerl, der aus dem Gewimmel ragt. Das ist Stefan, der Boss, erklärt der Dicke. Mit seinem ungepflegten Bart sieht Stefan aus wie ein ewiger Zivildienstleistender. Er spricht in einem näselnden Tonfall, der Schnurpfeil rasend macht.
Man konnte die Späher nicht allein lassen auf der Wiese, deshalb hat man sie mit hereingebracht. Von einem Anruf und einer Grippe weiß man nichts. Es ist viel los, da hat man nicht immer alles im Blick. Und man sieht auch nicht ein, was daran jetzt so wichtig ist.
Schnurpfeil hält Stefans Arm gepackt und drückt einmal kräftig zu.
Ja, doch, man erinnert sich, dass ein großgewachsener Mann den schlafenden Liam nach Gwiggen gebracht und auf seinen Armen ins Haus getragen hat.
Der Polizeiobermeister verstärkt seinen Griff, woraufhin man auch noch weiß, dass der Mann dunkle Haare hatte. Und als der Polizeiobermeister die zweite Hand zu Hilfe nimmt, kann man den Unbekannten noch mit schwarzen, elends stechenden Augen und einem elends arroganten Gesicht ausstatten. Elends sicher ist man sich, dass es nicht derselbe Typ war, der Liam ein paar Tage später von hier weggeschafft hat.
Schnurpfeil steckt den gelben Zettel ein, lässt sich den vollen Namen von F. diktieren und wünscht in reinstem Hochdeutsch einen schönen Tag, bevor er sich einen Weg durch die plappernde Kinderherde bahnt und den Raum verlässt.
Der österreichische Beamte ist im Auto eingeschlafen und erschrickt, als Schnurpfeil ihn an der Schulter rüttelt. Barsch verlangt dieser nach dem Autotelefon. Selbstverständlich wäre es schöner, die Neuigkeiten persönlich zu überbringen. Aber in solchen Dingen versteht die Kommissarin keinen Spaß. Komplett. Gründlich. Schnell. Wie immer zur vollen Zufriedenheit.
Der Polizeiobermeister nimmt den Hörer entgegen und entfernt sich so weit vom Wagen, wie es das Spiralkabel erlaubt.
»Auftrag erfüllt, Chefin!«
»Schluss mit dem Raumschiff-Enterprise-Gequatsche«, sagt Rita. »Spucken Sie’s aus.«
Es sind genau diese Repliken, für die er sie am meisten liebt.
3
J ulia? Bist du das?«
»Weit davon entfernt, Schilf. Und warum melden Sie sich am Telefon eigentlich immer mit einer Frage?«
Darüber hat der Kommissar noch nicht nachgedacht. Wahrscheinlich entspricht das einfach seinem Naturell.
»Und wer ist Julia?«
»Meine
Weitere Kostenlose Bücher