Schilf
den Stuttgarter Hauptbahnhof mehr als rechtzeitig erreichte. Aufgehalten hat ihn eine Zeitschrift, die auf dem Bahnsteig herumlag und auf der er beinahe ausgerutscht wäre. Er nahm sie dem Wind weg, der aufgeregt darin blätterte, und las sich an der aufgeschlagenen Stelle fest.
In dem Beitrag beschäftigte sich ein Physikprofessor mit den Theorien des Zeitmaschinenmörders, also mit jenem Fall, der Schilf eine Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar eingetragen hat und der ihm überdies einen bescheidenen Platz in der Kriminalgeschichte sichern wird. Während der Kommissar die Zeilen verschlang, kam es ihm vor, als sprächen sie nur zu ihm. Lesend stand er vor dem Schaukasten mit Fahrplanhinweisen, trat nicht beiseite, als ihn ein anderer Passagier darum bat, hörte die Lautsprecherdurchsage nicht, die vor dem Einfahren des Zuges warnte, und war überhaupt unfähig, die Augen von dem Artikel abzuwenden. Am Ende sah er erstaunt dem ausfahrenden Zug hinterher, bereit zu glauben, er sitze sehr wohl auf seinem reservierten Platz 42 in Wagen 24 und fahre, abgespalten von sich selbst, auf einem anderen Kausalgleis in ein Paralleluniversum hinein. Seine rechte Hand fuhr tastend an die Schläfe, als suchte sie einen Hebel, um das minimale Versäumnis rückgängig zu machen. Er hatte nur zu spät von der Zeitung aufgeschaut und war nicht in eine der Türen gesprungen. Eine solche Kleinigkeit konnte sich dem Weltgedächtnis doch nicht so schnell und unwiderruflich eingegraben haben.
Allein blieb Schilf auf dem noch immer nächtlich stillen Bahnsteig zurück, in Grübeleien versunken, und verbrachte eine Stunde reglos auf derselben Stelle. Als der nächste Zug einfuhr, war er noch gar nicht zum Warten gekommen.
Der Intercity, in dem er jetzt sitzt, gleicht dem verpassten aufs Haar. Aus Trotz hat sich Schilf auf Platz 42 in Wagen 24 gesetzt. Er sortiert die Füße links und rechts der Reisetasche, legt die Hände auf die Knie und strafft den Rücken. In dieser Haltung gelingt es ihm, den von neuem anbrandenden Kopfschmerz zurückzudrängen und darüber hinaus für eine Weile die Existenz seiner Bandscheiben zu vergessen. Wie er seit einiger Zeit weiß, bedeutet Altern nicht nur die Fähigkeit, um vier Uhr morgens zu erwachen und nicht mehr einschlafen zu können. Altern ist vor allem ein fortgesetztes Rendezvous mit dem eigenen Körper, ein Zwiegespräch mit Schläuchen, Filtern, Scharnieren und Pumpen, die jahrelang im Verborgenen ihren Dienst getan haben und sich dann plötzlich, nach Aufmerksamkeit heischend, ins Bewusstsein drängen. Sich selbst zu kartographieren, ist gleichbedeutend mit Sterben; sich ganz erfasst zu haben, ist der Tod, denkt der Kommissar, der, aufrecht wie eine Statue, mit dem Heben und Senken des Zugs leise schwankt. Zum wiederholten Mal sagt er sich, dass sein schlecht gezimmertes Ersatzleben nun endgültig aus den Fugen geraten ist. Bei dem Gedanken empfindet er eine unsinnige Fröhlichkeit. Geistig fühlt er sich stark wie schon lange nicht mehr, ausgerechnet hier: am Rand seiner Kraft.
Draußen unterbricht die Landschaft ihren eiligen Lauf, einzelne Passagiere steigen ein und aus. Schilf hebt seine Reisetasche neben sich, damit der Platz frei bleibt. Die Zeitschrift, die ihn so sehr gefesselt hat, ragt als widerspenstige Rolle aus dem Seitenfach. Wenn Schilf die Ausführungen des Physikprofessors richtig verstanden hat, bestätigen sie die Thesen des Zeitmaschinenmörders. Wobei nicht ganz klar wird, ob der Verfasser die Viele-Welten-Interpretation vertritt oder nur erklärt. Der Kommissar schlägt noch einmal das Inhaltsverzeichnis auf. Das quadratische Photo zeigt den Professor blond und lachend. Er sieht glücklich aus. Schilf mag die Bildunterschrift: Alles, was möglich ist, geschieht. Irgendwie passt der Satz zu seinen vagen Ideen vom Quelltext der Realität, auch wenn ihm das Modell vom Zeit-Schaum viel zu schablonenhaft erscheint.
Schon als Kind war er begeistert von der Idee, die Welt könne in Wahrheit ganz anders beschaffen sein, als die menschlichen Sinne sie zeigen. Im Sommer lag der kleine Kommissar im Garten hinter dem Elternhaus auf dem Bauch und diskutierte mit einem Schmetterling darüber, ob der Nussbaum an der Mauer als ein einzelnes Gebilde oder, durch die Facettenaugen des Insekts betrachtet, als ein Konglomerat aus zweitausend ineinandergeschobenen Nussbäumen zu begreifen sei. Die Diskussion nahm kein Ende, denn beide, der kleine Kommissar und der
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