Schilf
Zwang, das eigene Tun und Lassen aus dem Off zu kommentieren, befällt ihn in unregelmäßigen Abständen wie eine chronische Krankheit. Dann gibt es in seinem Kopf keine Gegenwart mehr, sondern nur noch das narrative Präteritum, und anstelle eines Ichs nur noch die dritte Person. Auf einmal klingen seine Gedanken, als erzählte in ferner Zukunft jemand über ihn und diesen frühen, mit einem Reißverschluss aus Metallgittern an der Hauswand befestigten Morgen. Schilf hat gelernt, sich nicht zu wehren. Man kann vor vielem davonlaufen, schwerlich aber vor den Ereignissen im eigenen Kopf. Er hat seine notorischen Selbstgespräche den inneren Beobachter getauft, weil Menschen dem Unbegreiflichen einen Namen geben müssen. Es kommt vor, dass ihn der Beobachter nur für ein paar Stunden besucht. Bei anderen Gelegenheiten bleibt er wochenlang auf Tuchfühlung und macht die Welt zu einem Hörspiel ohne Stopptaste und Lautstärkeregler, mit Schilf als Autor, Sprecher und Zuhörer in einer Person. Zu manchen Ereignissen schweigt der Beobachter, andere diskutiert er umso gründlicher. Zu Beginn eines schwierigen Falls ist eigentlich immer auf ihn zu zählen. Am liebsten gibt er wieder, was der Kommissar denkt.
Wenn ich eins nicht brauchen kann, ist das ein geköpfter Radfahrer, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Vor zwei Tagen hat ihn der schnauzbärtige Polizeipräsident mit einem persönlichen Anruf beehrt und ihm als Ausdruck besonderer Wertschätzung den geplanten Urlaub gestrichen. Die Freiburger schaffen das nicht, rief der Präsident ins Telefon. Der Medizinerskandal macht die ganze Stadt verrückt. Erst sterben vier Herzpatienten, dann wird ein Oberarzt ermordet. Selbst die Holzköpfe von der Presse sehen den Zusammenhang. Ferien gibt’s später, Schilf! Klären Sie vorher die Sache mit diesem Dabbeling.
Unter anderen Umständen wäre Schilf dem Befehl des Präsidenten widerstandslos gefolgt. Auch jetzt folgt er, aber die Widerstände sind enorm. In seiner Wohnung schläft, wenn er die Sache nüchtern betrachtet, ein Problem, und ein weiteres (oder vielleicht sogar dasselbe) bewohnt seit geraumer Zeit seinen Kopf. Der Kommissar will jetzt nicht nach Freiburg. Ihm graut es vor der winzigen Dienstwohnung unweit der Heinrich-von-Stephan-Straße. Er interessiert sich nicht für tote Anästhesisten oder den Größenwahnsinn eines Chefarztes. Er hat in den vergangenen Jahren ohne Unterbrechung gearbeitet und braucht eine Pause. Momentan gibt es Wichtigeres als einen Dabbeling, der bei Rita Skura und ihren Außenministern ohnehin in den besten Händen ist.
Schilf überlegt, auf leeren Magen ein Zigarillo zu rauchen, und verwirft die Idee wieder. Eine Weile blickt er in die Mülltonnenstille des Hofs. Aufreizend langsam überquert eine Katze das sauber gefegte Pflaster. Als sich Schilf in Bewegung setzt, flieht sie mit einem Satz in den nächsten Hauseingang.
An manchen Tagen lässt einem das Leben gar keine andere Wahl, als es durch die Hintertür zu betreten, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Er läuft die dröhnende Gittertreppe hinunter. Das Knacken in Knien und Schultern ignorierend, klettert er seitlich an der Absperrung vorbei, die das Ende der Feuertreppe sichert. Die letzten anderthalb Meter springt er in den Hof.
Knapp zwei Stunden später lehnt Schilf die Stirn gegen das kalte Glas einer vibrierenden Scheibe und spürt dem Abklingen einer heftigen Kopfschmerzattacke nach. Durch einen Schlitz am unteren Rand des Fensters pustet ihm die Klimaanlage Luft ins Gesicht. In einer weiten Kurve umrundet der Zug eine kleine Stadt, die mit Kirchturm, Fachwerk und gemähten Wiesen dem Ausstellungsstück eines Freilichtmuseums gleicht. Als das hintere Ende des Intercitys ins Sichtfeld gerät, denkt Schilf wie bei jeder Zugreise darüber nach, in was für einem Wunderwerk menschlicher Strebsamkeit er sitzt. Welch gewaltige Massen die Menschen beschleunigen, mit wie viel Mühe sie der Erde die benötigten Materialien abringen, um sie, einer großen Idee entsprechend, zu etwas Brauchbarem zusammenzufügen. Und wie sie das alles zu einem Zweck vollbringen, der, trotz jahrtausendelanger geistiger Anstrengung der Klügsten unter ihnen, noch immer vollständig im Dunkeln liegt!
Als das nächste Waldstück den Zug verschlingt, wendet er den Blick vom Fenster ab. Die Welt wird zu einem Hetzen im linken Augenwinkel.
Schilf hat es tatsächlich geschafft, den Fünf-Uhr-Zug nach Freiburg zu verpassen, obwohl er
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