Schilf
herum, die Aufträge gingen nicht aus. Von ihr existierten so viele Bilder, erklärte die Frau, dass sie sich niemals fragen musste, wer sie sei. Während andere sich in düsteren Büros über Schreibtische beugten, saß sie mit einer Tasse Milchkaffee im Garten ihres Lieblingscafés und ließ sich die Wangen vom Wind streicheln. Im Grunde, gestand sie dem Kommissar, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sich an diesem hervorragend bequemen Lebensstil irgendwann etwas ändern müsste. Bis ihr ein Orthopäde mitteilte, dass sie nie wieder Modell stehen dürfe, wenn sie verhindern wolle, dass ihr das ewige Stillhalten endgültig Rücken, Knie und Ellenbogen auffräße.
Was der Kommissar zu dieser Geschichte meine, fragte die Frau, als sie wie abgesprochen vor den Glastüren des McDonald’s am Schlossplatz ihre Schritte verhielten. Dem Kommissar war nicht aufgefallen, dass es sich bei ihren Tiraden um eine Geschichte gehandelt hatte. Ein Mensch, der sich nicht fragen muss, wer er sei, vermag wenig in der Kunst des Geschichtenerzählens.
Das hatte er laut gesagt, und der Frau gefiel die Bemerkung. Sie lachte. Zu ihren Füßen hüpften Spatzen davoneilenden Bonbonpapieren und wegrollenden Zigarettenkippen nach; es war ein windiger Tag. Der lange Spaziergang hatte den Kommissar derart erschöpft, dass ihm die Aussicht auf etwas Essbares und eine Tasse Kaffee ein intensives Glücksgefühl bescherte. Gemeinsam und in bester Stimmung betraten sie das Restaurant. Schilf hielt der Frau die Glastüren auf, glaubte sich von entgegenkommenden Gästen seltsam angesehen und folgte den zielstrebigen Schritten seiner Begleitung zu einem Eckplatz. Die Frau ließ sich auf die Bank fallen und entledigte sich mit geschmeidigen Bewegungen der Schultern ihrer Jacke. Nach der Diagnose des Orthopäden, sagte sie, reichten ihre Ersparnisse kaum noch für ein paar Wochen. Wie die Grille in der Fabel habe sie sich während eines endlosen Sommers nicht mit dem Gedanken an harte Wintertage belastet. Deshalb sei sie nun auf der Suche nach jemandem, der für sie sorge.
In diesem Augenblick verstand der Kommissar, was geschehen würde. Er setzte sich hin, stand wieder auf und fragte, ob er ihr etwas bringen könne. Hamburger zum Beispiel, Apfeltaschen oder Geflügelabfälle in fettiger Panade. Mit einem Blick, der tadelnd und beinahe zärtlich war, forderte die Frau ihn daraufhin auf, sich wieder hinzusetzen und wie ein gesitteter Mensch nach einem Kellner Ausschau zu halten, den man um die Speisekarte bitten könne. Jetzt wusste der Kommissar nicht nur, was geschehen würde. Ihn überkam auch der unauslöschliche Verdacht, dass es diese Frau, die man ihm ganz zufällig zusammen mit dem Todesurteil geschickt hatte, in Wahrheit gar nicht gebe. Ein Mensch, der bei McDonald’s nach der Speisekarte verlangt, passte einfach zu gut zu seiner merkwürdigen Form von Einbildungskraft. In ihrer Lage sei nichts leichter, als einfach verrückt zu werden, sagte die Frau und sah ihn immer weiter aus spiegelnden Augen an. Aber ihr erschienen die Angebote des Lebens nach wie vor verlockender als jene des Wahns.
Noch bevor der Kommissar zur Theke ging, um bei einem bleichen Mädchen eine Mahlzeit für sie beide zu erstehen, hatte er der Frau seine Adresse und die Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Als er am Abend vom Dienst nach Hause kam, hatte sie aufgeräumt, gesaugt, das Bett gemacht und eine Suppe gekocht. Während sie zum zweiten Mal an jenem Tag miteinander aßen, verriet sie ihm ihren Namen: Julia.
Das war vor vier Wochen. Inzwischen bemüht sich der Kommissar ganz selbstverständlich, beim frühen Aufstehen keinen Lärm zu machen. Im Bett liegt seine neue Freundin und schläft.
5
A uf den scheppernden Gittern setzt Schilf behutsam Fuß vor Fuß. Er zieht die viel zu warme Morgenluft durch die Zähne ein und betrachtet die Fassaden der Nachbarhäuser. Hinter all diesen dunklen Fenstern schlafen Menschen, bewusstlos neben- und übereinandergeschichtet wie verpuppte Maden. Diese Vorstellung trägt nicht gerade dazu bei, die Lust auf die heutige Fortsetzung seiner Existenz zu steigern. Gerade hat er die Hälfte der Treppe überwunden, da meldet sich der innere Beobachter zu Wort.
Wieder einmal verließ Kommissar Schilf die Wohnung über die Feuertreppe, heißt es in seinem Kopf. Er hatte keine Lust auf seinen neuen Fall.
Diese Stimme kennt Schilf seit über zwanzig Jahren, nämlich seit jenem Bruch, der seine Biographie in zwei Hälften teilt. Der
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