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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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rahmen zu lassen. Weil Glioblastoma multiforme nach einer seltenen Baumsorte oder einem missgestalteten Insekt klang, gab er seinem Untermieter zunächst einmal einen neuen Namen: ovum avis   – das Vogelei. Während der Arzt noch damit beschäftigt war, dem Kommissar eine Überweisung an einen Spezialisten auszustellen, erhob sich dieser und sagte Lebewohl. Er hatte nicht die Absicht, noch einmal wiederzukommen. Auch den renommierten Spezialisten würde er nicht aufsuchen. Wer regelmäßig an Obduktionen teilnimmt, verspricht sich nichts vom Aufsägen seiner Schädeldecke.
    »Bist du noch da? Kannst du mich hören? Verdammt.«
    Lächelnd schüttelt der Kommissar den Kopf und streckt die Wirbelsäule, bis es knackt. Zwei Sitzreihen hinter ihm tippt jemand wütend auf den Tasten seines Mobiltelefons. Seit es Handys gibt, haben die Menschen endlich ein Ventil gefunden, um ihre metaphysische Verlorenheit und den Grundzweifel an der Existenz anderer Lebewesen zum Ausdruck zu bringen. Hörst du mich? Bist du da? Wer wollte schon mit Sicherheit behaupten, der andere sei wirklich da und könne einen hören! Jedes vernunftbegabte Wesen, denkt der Kommissar, ist notwendig Solipsist und ein Leben lang damit beschäftigt, genau das nicht zu bemerken. Er selbst hätte tatsächlich allen Grund, das Handy aus der Tasche zu fischen, die Nummer der eigenen Wohnung zu wählen und abzuwarten, ob seine neue Freundin antwortet, von der er immer noch nicht recht glaubt, dass sie weiterlebt, wenn er gerade nicht hinsieht. Bist du noch da? Mit derselben Frage könnte er auch bei sich selbst anrufen oder gleich bei dem Vogelei in seinem Kopf. Wenn der Hausarzt recht hat, bleiben Schilf noch einige Wochen, höchstens ein paar Monate von jenem Rendezvousmit sich selbst, das die Menschen gemeinhin ihr Dasein nennen. Er bräuchte diese Zeit für eine Ermittlung, bei der er selbst der Hauptverdächtige wäre. Es gälte zu klären, was seine neue Freundin und das Vogelei miteinander zu tun haben. Vielleicht ist der Zeitmaschinenmörder ein Mittäter, der Physikprofessor ein wertvoller Zeuge. Mehr noch, der Kommissar müsste größere Lücken schließen, herausfinden, auf welche Weise die zersplitterten Teile seiner Biographie zu einem Ganzen zu fügen sind. Mit etwas Geduld würde er eine Lösung finden, wenigstens eine von denen, die außer ihm niemand versteht. Schließlich wird man nicht alle Tage innerhalb weniger Stunden erst für tot und dann zum Mann des Lebens erklärt. Bevor man endgültig abtritt, kann es doch nur darum gehen, sich zu komplettieren.
    Irgendwo in wachsender Entfernung dreht sich Julia auf die andere Seite und seufzt im Schlaf, weil es ihr langsam zu warm wird in dem engen Raum. Wenn Schilf an sie denkt, an jenes weichhäutige, schlafschwere Wesen in seinem Bett, das tagsüber mit großer Selbstverständlichkeit seine Wohnung in Ordnung hält, seine Bücher liest und dabei rund um die Uhr vor guter Laune strahlt wie ein junger Hund, zieht sich sein Magen in einer Mischung aus Furcht und Glück zusammen. Er glaubt nicht an die rettende Macht der Liebe und hat deshalb nicht vor, seinen Lebenswunsch an ein Bauchkribbeln zu knüpfen. Trotzdem hat er keine Lust zu sterben – und weiter ist er mit seinen Überlegungen bislang nicht gekommen. Fest steht nur, dass Schilf und der Kommissar, falls sie noch etwas Bestimmtes voneinander wollen, sich um jeden Preis beeilen sollten.

7
    N ach dem Umsteigen in Karlsruhe beschließt der Kommissar, das Nachdenken einzustellen. Seiner Reisetasche entnimmt er ein Lederetui und diesem wiederum ein mattsilbernes Gerät, nicht größer als ein Kartenspiel. Seine neue Freundin hat es ihm geschenkt. Sie fand, dass das Königsspiel gut zu ihm passe, zumal er, sollte eines Tages jemand ein Buch über ihn schreiben, darin als der Schach spielende Kommissar auftreten könne, so wie Sherlock Holmes den Geige spielenden Detektiv gegeben habe. Schilf verzichtete auf den Hinweis, dass er kein Detektiv und Geige kein Strategiespiel sei, und nahm das Kästchen dankend entgegen. Wenn man die Starttaste betätigt, leuchtet das Display in den bläulichen Farben einer Morgendämmerung. Die Schachregeln hat Schilf vor drei Jahrzehnten von einem Studienfreund gelernt, ohne sich damals für das Spiel der Spiele begeistern zu können. Seit er aber den kleinen Computer zum ersten Mal in die Hand genommen hat, will er ihn gar nicht mehr weglegen. Julia freut sich über ihren Erfolg. Wenn er auf dem bläulichen

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