Schilf
junge Mann hatte ihm auf den ersten Blick vertraut und erzählt, dass er aus der Zukunft komme und in dieser Zeit gelandet sei, um einige bahnbrechende Experimente durchzuführen. Er arbeite an nichts weniger als an einer Auflösung des Großvaterparadoxons. Er wolle beweisen, dass Veränderungen der Vergangenheit keinerlei Auswirkungen auf spätere Ereignisse zeitigten; dass man also als Zeitreisender seine Vorfahren töten könne, ohne die eigene, zukünftige Existenz zu gefährden. Schilf hatte ihm eine weitere halbe Stunde interessiert zugehört, bis zwei Beamte in Zivil das Café betraten und den jungen Mann so galant festnahmen, dass keiner der anderen Gäste etwas bemerkte.
Im Verhör präsentierte der Mörder ein Dossier mit Lebensläufen seiner Opfer, die bis ins Jahr 2015 reichten. Am Rand der Verzweiflung versicherte er wieder und wieder, dass die Getöteten in der Zukunft wohlauf, zum Teil verheiratet und beruflich erfolgreich seien. Überdies hätten sie dem Experiment zugestimmt. Er selbst sei nicht wie die anderen da draußen, rief er. Er lebe nicht hier, sondern sei nur zu Gast, auf Arbeitsexkursion in einer Welt ohne Konsequenzen und deshalb für keine wie auch immer geartete Tat zu belangen. In den Dschungeln der Zeit, schrie der Zeitmaschinenmörder, während Schilf den Raum verließ, sei jeder Augenblick sich selbst der Nächste.
Auf dem Flur vor dem Verhörzimmer lehnte sich der Kommissar an die Wand. Er wusste, dass das Schwurgericht einen Unbelehrbaren, einen Einsamen, einen im tragischen Sinne Unschuldigen verurteilen würde.
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M it beiden Händen reibt sich der Kommissar das Gesicht. Als der Intercity in die nächste Kurve geht, entdeckt er draußen die wirbelnden Schnipsel einiger Möwen, die dem Zug wie einem Ozeandampfer zu folgen scheinen. Obwohl die Geschwindigkeit eindeutig gegen Möwen und für eine optische Täuschung spricht, kann er mit zusammengekniffenen Augen sogar die orangefarbenen Schnäbel und schwarzen Mützchen erkennen.
Sanft streicht er über die glatte Oberfläche der zusammengerollten Zeitschrift. Eigentlich sind es gar nicht die Inhalte des Artikels, die ihn so sehr faszinieren. Vielmehr ist es das Gefühl, die Stimme des Verfassers erkannt zu haben. Beim Lesen hat er sie im Kopf gehört, als hätte der Physikprofessor leibhaftig zu ihm gesprochen. Und zwar wie zu einem Freund. Der Kommissar ist sich sicher: Diesen Artikel schreibt einer, der nicht einmal an die eigenen Ausführungen glaubt. Einer, der auf grundlegende Art am Wesen der Wirklichkeit zweifelt, verzweifelt, so wie man sich in einem Labyrinth verirrt. Noch etwas hat der Kommissar von den facettenäugigen Schmetterlingen gelernt: Wer nichts glaubt, kann auch nichts wissen. Ohne eine zuverlässige Medizin gegen den Zweifel kein erkenntnistheoretischer Orientierungssinn. Schilf würde alles dafür geben, mit diesem Sebastian darüber zu sprechen. Vielleicht braucht er für die Tore ins Bodenlose, die sich seit neuestem in unpassenden Situationen vor seinen Füßen öffnen, einen Physikprofessor. Und keinen Arzt.
Sein Hausarzt hatte nicht viel mehr getan, als eine Menge Fragen zu stellen. Er fragte nach Schilfs Ermittlungserfolgen und nach dem steigenden Preis, den er dafür bezahlt – Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzattacken, Realitätsverlust. In der Woche darauf schob man den Kommissar wie ein Brot in die Röhre, um die Atomkerne in seinem Kopf mithilfe von Magnetfeldern in Schieflage zu bringen. Noch etwas später saß er wieder im holzgetäfelten Herrenzimmer, und die Sprechstundenhilfe servierte ihm einen Kaffee, damit er etwas hatte, in dem er rühren konnte. Schilf warf ein Stück Zucker nach dem anderen in die Tasse und rührte ohne Unterlass. Inzwischen machte ihn der Hausarzt mit dem heimlichen Untermieter in seinem Oberstübchen bekannt. Name: Glioblastoma multiforme . Alter: jedenfalls mehrere Monate, vielleicht sogar ein paar Jahre. Größe: drei Komma fünf Zentimeter. Geburtsort: Frontallappen, etwas links von der Mitte. Funktion: das Verursachen von Gedächtnisstörungen, chronischem Kopfschmerz und Realitätsverlust.
In der Tasse des Kommissars verband sich der Zucker mit der erkaltenden Flüssigkeit zu einer gesättigten Lösung. Er musste das Rühren unterbrechen, damit ihm der Arzt die Hand tätscheln konnte. Vor ihm auf dem Tisch lag das Ergebnis der Kernspintomographie, eine in Grautönen gehaltene Photographie, die Schilf so dekorativ fand, dass er darüber nachdachte, sie
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