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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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in verschiedene Körperöffnungen geleuchtet hat. Ein dicker Teppich bedeckt den Boden, dunkles Holz die Wände, und die klassische Literatur mit Goldschnitt ist, zu allem himmelschreienden Überfluss, mithilfe einer fahrbaren Bibliothekarsleiter zu erreichen.
    Die Frau, der Schilf begegnet ist, stellt gewissermaßen das Gegenteil dieses Herrenzimmers dar. Sie hat dunkles, leicht gewelltes Haar, eine geradezu unglaubwürdige Stupsnase, flache Augen, die ihre jeweilige Umgebung spiegeln, und einen Körperbau, der besser zu einem Mädchen als zu einer Vierzigjährigen passen würde. Der Kommissar ist ihr kurz nach dem fatalen Arztbesuch in der Stuttgarter Fußgängerzone begegnet. Genauer gesagt, rannte sie ihm ins Kreuz, weil er abrupt stehen geblieben war. Vor seinen Füßen hatte sich, wie es in letzter Zeit öfter passiert, das Pflaster zu einem Abgrund geöffnet. Durch das Loch blickte er in eine schwindelerregende Bodenlosigkeit hinab, in einen Zustand außerhalb von Raum und Zeit, in dem alles mit allem zusammenhängt.
    Seit seiner Kindheit glaubt der Kommissar, dass sich jenseits der wahrnehmbaren Welt eine Art Ursubstanz von Realität befinden müsse. Größere Männer als er haben vom Ding an sich , vom Sein als solches oder schlicht von Information gesprochen. Der Kommissar sagt heute »Quelltext« dazu und meint damit etwas, das hinter der sichtbaren und bedienbaren Benutzeroberfläche des Alltags liegt. Der Begriff gefällt ihm, weil er die Wirklichkeit mit einer menschengemachten Maschine vergleicht, mit einem intelligenten Produkt von Intelligenz. Denn nichts anderes ist diese Wirklichkeit seiner Meinung nach: eine Schöpfung, die sekündlich im Kopf jedes einzelnen Beobachters geboren, also zur Welt gebracht wird. Vor langem hat der Kommissar eine Methode entwickelt, mit der er versucht, im Quelltext zu lesen. Auf diese Weise löst er seine Fälle. Dass sich das Tor zum Bodenlosen auch unverlangt öffnet, war, zusammen mit wiederkehrenden Kopfschmerzen, der Grund für seine jüngsten Arztbesuche.
    Hinter ihm raschelten Plastiktüten. Dann ein Schrei und ein Aufprall in seinem Rücken. Eigentlich hätte ihn der Stoß über den Rand des Abgrunds befördern müssen. Schon wähnte er sich fallen, empfand aber keine Angst, sondern so gewaltige Sehnsucht, dass er sich, nachdem er einen Ausfallschritt nach vorn getan und festen Boden unter den Füßen gefunden hatte, mit einem Ausdruck tiefer Enttäuschung nach seinem Angreifer umwandte. Die Frau lachte, als sie seine Miene sah, schüttelte lustig die Locken und verzichtete darauf, sich zu entschuldigen. Stattdessen ging sie dem Kommissar, als dieser sich wieder in Bewegung setzte, ohne weiteres hinterher. Er hatte ihr weder die Hand gegeben noch seinen Namen genannt. Wie einen Treibanker zog er sie kreuz und quer durch die Innenstadt. Nach dem Arztbesuch hatte er vorgehabt, etwas Normales zu tun, zum Beispiel ein Stück Pizza zu kaufen. Nun ging es nur noch um die Frage, wie er seine neue Bekannte loswerden sollte. Sie schleppte ihre Plastiktüten, in denen sich, wie sich später herausstellte, alles befand, was sie zum Leben brauchte, und folgte dem Kommissar, ohne sich zu wundern, weshalb sie immer wieder an denselben Ecken vorbeikamen. Schilf besaß zu wenig Phantasie und die Fußgängerzone war zu klein, um einen so langen Spaziergang abwechslungsreicher zu gestalten. Während sie zum wiederholten Mal an denselben Ampeln warteten, dieselben Straßen überquerten und flüchtig in dieselben Schaufenster blickten, erzählte die Frau ungerührt und ununterbrochen von sich selbst.
    Mit sechzehn Jahren hatte sie begonnen, in Aktzeichenkursen Modell zu stehen und damit bald so viel Geld verdient, dass sie die Notwendigkeit einer sogenannten ordentlichen Ausbildung als wenig dringend empfand. Mit der Zeit wurden die Maler berühmter und die Gehälter höher. Sie hatte schnell begriffen, dass sie nicht für Nacktheit bezahlt wurde, sondern für einen Kraftakt, der darin bestand, sich über Stunden hinweg nicht zu bewegen. Sie brachte es zur Meisterschaft bei der Verwaltung körperlicher Schmerzen – und das in einem völlig langweiligen Raum, der nur vom Kratzen der Holzkohle, vom scharfen Luftholen und gelegentlichen Seufzen der Künstler belebt wurde. In einer Art Duldungsstarre war sie zum Entzücken der Maler in der Lage, sich stehend wie in plötzlichem Erschrecken umzuwenden und diese Position einen ganzen Nachmittag lang zu halten. Ihr Talent sprach sich

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