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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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jugendlichen Genies, die einen weiten Weg auf sich nehmen, um die Theorie von der Quantisierung der Zeit mit ihrem berühmten Urheber zu besprechen, und die dann in einer Genfer Kneipe auf einen Mann treffen, der seinen Verstand nicht mit weißen Haaren und Denkerfalten, sondern mit einem klassischen Profil und dem Lächeln eines fleischgewordenen Besitzanspruches dekoriert. Oskar nähert seinen Mund dem Ohr des Jungen und spricht ein paar Worte. Sogleich hebt dieser die Hand und entfernt sich in Richtung der Toiletten.
    In der nächsten Sekunde stehen sie einander gegenüber. Es ist Oskar, der als Erster den Arm ausstreckt. Kein Mensch kann sich, tagein, tagaus, alleine aufrecht halten. Die Mischung ihrer Körpergerüche ist ein unsichtbares Zuhause. Darin wohnt der Schmerz darüber, dass der Raum, den sie teilen, nur schneidende Kälte oder sengende Hitze, aber keine menschlichen Überlebensbedingungen kennt.
    Oskar entfernt das Reservierungsschild vom Tisch in der Nische und platziert Sebastian so, dass dieser die kitschige Reproduktion eines Stilllebens vor Augen hat. Es zeigt einen Fasan im eigenen Federkleid; der Hals hängt abgeknickt über den Rand der Schüssel. Vom Platz gegenüber kann Oskar den ganzen Raum überblicken. Unaufgefordert bringt der Barmann zwei Gläser und eine Flasche Whisky, die genauso alt ist wie der bebrillte Junge, der das Cercle nach seinem Besuch auf der Toilette verlassen hat. Sie stoßen an, sie trinken. Oskars äußere Ruhe ist unversehrt. Er wippt nicht mit dem Fuß, zupft keine Fusseln vom Stoff der Anzughose. Unverwandt schaut er Sebastian an.
    Dieser zeichnet mit dem Finger die Maserung des Holztisches nach und ist damit beschäftigt, nicht die Jahre zu zählen, nicht zu fragen, wie viele Male er bereits im Cercle gesessen hat, erfüllt von einer heiklen Melange aus Glück und Angst. Von hier aus betrachtet, gleicht sein übliches Leben der Erinnerung an eine Filmvorführung, in der er selbst, Maike und Liam die rührenden Hauptrollen spielen. Immer, wenn er Freiburg wegen einer angeblichen Konferenz übers Wochenende verließ, hat er Oskar wartend angetroffen, spöttisch, scharf, mit hochgezogenen Augenbrauen, aber ohne Zorn.
    Vielleicht, denkt Sebastian, ist Oskars herausragendste Eigenschaft nicht seine Intelligenz, sondern eine Geduld, welche die Macht und Gültigkeit eines Naturgesetzes besitzt. »Wie die Zeit vergeht« ist für Oskar niemals eine Feststellung, sondern stets eine Frage gewesen.
    Und vielleicht, denkt es weiter in ihm, ist Maikes und Liams herausragendste Eigenschaft ihr grenzenloses Vertrauen, während Sebastians Qualität darin besteht, ein solches Vertrauen ohne Skrupel missbrauchen zu können. »Kann das wirklich wahr sein?« ist für Sebastian niemals eine Frage, sondern stets ein physikalisches Problem gewesen.
    Sein Zeigefinger kriecht entlang der Maserung auf die andere Tischseite, und als Oskar zufasst, überlässt er ihm seine Hand.
    »Es kann sich nur noch um Tage handeln«, sagt Sebastian.
    »Um Stunden«, erwidert Oskar.
    »Ein Kommissar ist an mir dran. Entweder begreift er gar nichts. Oder alles.«
    »Vermutlich alles. Oder warst du dumm genug zu hoffen, dass sie nicht auf dich kommen?«
    »Die Hoffnung«, sagt Sebastian lahm, »stirbt zuletzt.«
    »Die Ehre nie.«
    Oskar trinkt und stellt das Glas auf den Tisch.
    » Cher ami «, sagt er, »es gibt das Leben, und es gibt die Geschichten. Der Fluch des Menschen besteht darin, zwischen diesen beiden Dingen schlecht unterscheiden zu können.«
    »Sag es noch einmal.«
    »Was?«
    »Als ich dir am Telefon von Dabbeling erzählte, was hast du da geantwortet?«
    »So«, sagt Oskar.
    »Von diesem So lebe ich seit achtundvierzig Stunden.«
    Oskar drückt seine Hand.
    »Bist du deshalb gekommen?«
    Sebastian antwortet nicht. Er dreht sich auf dem Stuhl und schaut sich im Raum um.
    »Ich habe mich erkundigt«, sagt Oskar. »Man nennt es Nötigungsnotstand. Wer zu einer Tat erpresst wird, ist nicht verantwortlich.«
    »Verantwortlich bin ich ohne Zweifel.«
    Der Barkeeper poliert Gläser. Die Gäste unterhalten sich. Niemand schenkt dem Tisch in der Nische die geringste Beachtung. Erstaunlicherweise ist alles wie immer.
    »Diesen Satz höre ich zum ersten Mal von dir«, sagt Oskar. »Fürchtest du, dass man dir die Erpressung nicht glaubt?«
    »Es geht um etwas anderes.«
    »Maik?«
    Sebastian nickt.
    »Weiß sie Bescheid?«
    Sebastian zuckt die Achseln.
    »Du hast ihr nicht … alles

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