Schilf
angekommen. Wir haben die ganze Nacht zusammengesessen und geredet. Danach bin ich gegen sechs Uhr früh nach Genf zurückgefahren und einigermaßen pünktlich im Institut erschienen.«
Sebastians Mund steht ein Stück offen.
»Du bist verrückt«, sagt er.
»Und du solltest anfangen, dich zu wehren.«
»In meiner Aussage steht, dass ich nach Liams Verschwinden die ganze Zeit allein in der Wohnung war.«
»Maik sollte nicht erfahren, dass du mich um Beistand gebeten hast. Und nicht sie.«
»Was hast du wirklich in dieser Nacht gemacht?«
»Nichts, woran sich irgendjemand, dem ich begegnet bin, öffentlich erinnern würde.«
Sebastian hat die Hände um die Tischkante geschlossen. Der Whisky steigt ihm zu Kopf, er hat den Eindruck, sein Schädel stünde im Begriff, sich von den Schultern zu lösen.
»Ich will kein Alibi«, sagt er nach einer Pause.
» Bien «, sagt Oskar. »Dann eine andere Geschichte.« Er schaut noch einmal ins spiegelnde Fenster und streicht sich über das Haar. Seine Hände zittern. »Wir sind in der Schweiz. Das gibt uns ein paar Tage Zeit. Innerhalb von zwei Wochen kann ich meine Angelegenheiten regeln.«
»Wovon sprichst du?«
»Das hier«, Oskar klopft auf die Tischplatte, »ist nicht der einzige Kontinent auf der Welt.«
»Du willst, dass wir abhauen? Uns verstecken? Bei den Beduinen leben?«
»Nicht doch.« Oskar beugt sich vor. »Es gibt Forschungszentren in China. In Südamerika. In meiner Liga werden gewisse Unregelmäßigkeiten zu Bagatellen. Man würde uns mit Handkuss empfangen.«
Einige Sekunden vergehen, bis Sebastian den Sinn dieser Worte begriffen hat. Er lässt die Tischplatte los, verlagert das Gewicht, versucht, einen Ellenbogen aufzustützen, und sitzt wieder still.
»Und Liam?«, fragt er.
»Wir nehmen ihn mit. Beruflich müsstest du dich für eine Weile im Hintergrund halten. Du hättest Zeit für ihn.«
»Du sprichst nicht im Ernst«, flüstert Sebastian.
»Doch«, sagt Oskar. »Dir ist es in den letzten Jahren um deine Frau gegangen. Um deine Familie. Um die Physik. Mir …«, er legt Zigarettenpäckchen und Feuerzeug auf parallelen Linien nebeneinander, »ging es immer nur um uns.«
Unter dem Tisch begegnen sich ihre Knie. Oskar streckt die Hände aus und holt Sebastians Kopf zu sich heran, bis sie, Stirn an Stirn, über den Tisch gebeugt sitzen, dieselbe Atemluft teilend. Mit ganzem Gewicht lehnt Sebastian sich an, konzentriert auf die wärmer werdende Stelle, an der sich ihre Köpfe berühren, und wünscht, er könnte durch diesen Punkt dem eigenen Körper entfliehen, um unter dem Scheitel des Freundes Unterschlupf zu finden.
Natürlich. Es ginge. Es würde nicht einmal einer gewissen Logik entbehren. Weglaufen, nicht zum ersten, sondern zum letzten Mal. Der langen Reihe kleiner Fluchten nachträglich Ziel und Ursache geben. Alles erhielte eine Ordnung, beinahe schon einen Sinn. Er wäre nicht mehr Spielball, sondern Herr des eigenen Unglücks. Diesmal würde er Liam eigenhändig entführen und sich zu dem bekennen, was er längst ist: ein Verbrecher. Die vergehende Zeit würde ihm helfen, den Ausnahmezustand normal zu nennen.
Und die Normalität Vergangenheit, denkt Sebastian.
Erst als ihre Schädel schmerzhaft zusammenstoßen, weil das Schluchzen ihn heftig schüttelt, merkt Sebastian, dass er weint.
»Du weißt, dass ich dich immer …«, sagt er.
»Wir müssen nicht darüber sprechen«, sagt Oskar. »Das ist kein guter Moment.«
»Wenn ich Liam ansehe …«
Das Sprechen fällt ihm schwer. Er hat die Hände im Nacken des Freundes verschränkt und verhindert auf diese Weise, dass sein Oberkörper auf die Tischplatte sinkt.
»Wenn ich Liam ansehe«, sagt er, »ist es unmöglich, etwas zu bereuen.«
»Nicht einmal mir geht das anders«, sagt Oskar. »Die Vergangenheit ist geizig. Sie gibt nichts wieder her. Vor allem keine Entscheidungen.«
In Oskars Hosentasche findet sich ein Stofftaschentuch. Er trocknet Sebastian Augen und Wangen, dann schiebt er ihn von sich und bringt ihn in die Senkrechte zurück.
»Du hast getrunken«, sagt er. »Fährst du trotzdem zurück?«
Sebastian nickt.
»Das ist außergewöhnlich schade.«
Sebastian wendet sich ab und presst die Lippen aufeinander.
»So oder so«, sagt Oskar, »es geht vorbei. Danach wirst du ein neuer Mensch sein. Kein besserer, aber immer noch da.«
Die filterlose Zigarette ist im Aschenbecher heruntergebrannt. Oskar zuckt zusammen, als er sich beim Versuch, sie auszudrücken, die
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