Schilf
durchs Telefon, wobei Schilf, der die Lippen ungeschickt spitzt, ein viel zu lautes Quietschen erzeugt. Er lässt den Hörer auf der Fensterbank liegen und raucht das Zigarillo zu Ende. Das gleichmäßige Tuten des Besetztzeichens mischt sich harmonisch mit der Dunkelheit. Während des gesamten Gesprächs mit Julia hat sich der Beobachter nicht einmal zu Wort gemeldet. In einem Anfall von Müdigkeit, den er sich selbst nicht erklären kann, beschließt der Kommissar, gleich wieder ins Bett zu gehen.
4
D ie Sonne ist im Dunst hinter der Stadt versunken und hat nicht nur das Licht, sondern auch die Hitze des Tages mit sich genommen. Ungewöhnlich schnell ist die Nacht aus ihrem Versteck am Grund des Sees hervorgekommen und der Stadt in die Gassen gekrochen. Es ist feucht und kühl, als sollte der Sommer genau heute zu Ende gehen. Schon riecht es nach schlecht beleuchteten Bürgersteigen, hochgezogenen Schultern und feuchten Kopfbedeckungen.
Maikes Auto parkt unweit vom Seeufer. Sebastian sitzt hinter dem Steuer und versucht sich vorzustellen, wo er wohl im Winter sein mag. Wie er aussehen, was er essen, mit wem und worüber er reden wird. Es gelingt ihm nicht. Er erinnert sich an das Gefühl, niemals weiter als ein paar Stunden vorausschauen zu können, weil jeder neue Tag in der Lage war, einen neuen Menschen aus ihm zu machen. So lebte er als Kind. Damals fühlte er sich in der Gegenwart zu Hause und hielt es für normal, dass nicht die Zeit verging, sondern er selbst. Obwohl das ein glücklicher Zustand war, empfindet Sebastian es nicht als angenehm, mit Anfang vierzig seine Zukunft verloren zu haben. Für einen Erwachsenen ist das Fehlen von Zeit offensichtlich eine Art Heimatlosigkeit.
Er blickt über die schwarze Wasseroberfläche, in der sich die Lichter der Uferpromenade spiegeln. Er hat hier nicht angehalten, er ist gestrandet und findet keine Kraft für den nächsten Schritt. Er könnte das Handy herausholen und im Telefonverzeichnis nach einer Nummer suchen, die er natürlich längst auswendig kennt. Oder gleich den Motor anlassen und dem vertrauten Weg zu einer bestimmten Wohnung folgen. Oder aber den Schlüssel aus der Zündung ziehen, aussteigen, den Quai des Eaux-Vives entlangspazieren und im Anschluss daran nach Hause fahren.
Seit er Freiburg und damit auch das Grauen der vergangenen Tage hinter sich gelassen hat, hält ihn die Müdigkeit gepackt wie ein grippaler Infekt. Die Symptome sind vergleichbar, brennende Augen, kratzender Hals, Gliederschmerzen. Sebastian weiß kaum noch, wie er es bis hierher geschafft hat, geschweige denn, warum er überhaupt hergekommen ist. Wenn er die Augen schließt, rast die Autobahn mit unverminderter Geschwindigkeit durch seinen Kopf. Auf der Gegenfahrbahn tragen die Windschutzscheiben kleine Stücke eines rosafarbenen Abendhimmels gen Norden. Am Straßenrand betrachten verblühte Sonnenblumen mit gesenkten Gesichtern das Erdreich, in dem sie bald zu liegen kommen werden.
Mehrmals geriet der Wagen ins Schlingern. Sebastian atmete schneller und kniff sich in die Oberschenkel. Weil alles nichts half, dachte er an Dabbeling. Er führte sich eine Bilderserie vor, Blut, Knochen, Fahrradteile, und versah sie mit dem Untertitel »Das habe ich getan«. Der Effekt war schwächer als erwartet. Ein Kribbeln in der Magengegend, das kaum ausreichte, um den Blick fünf Minuten auf die Straße gerichtet zu halten. Je öfter er den Versuch wiederholte, desto geringfügiger die Wirkung. Nach fünfzig Kilometern ließ ihn die Erinnerung an Dabbeling völlig kalt.
Dafür weiß er jetzt, warum Mörder, wie die Kriminalliteratur behauptet, gern an den Ort ihres Verbrechens zurückkehren. Es ist nicht die unwiderstehliche Anziehungskraft des Bösen, die sie ruft. Auch nicht der Wunsch nach Sühne und die heimliche Hoffnung, gleich an Ort und Stelle verhaftet zu werden. Vielmehr ist es die Unfähigkeit zu glauben, dass sich die Tat wirklich ereignet hat. Ein Mörder kommt zurück, um an den Ermordeten nicht immer weiter als an einen lebenden Menschen denken zu müssen. Wenn Sebastian die Zeit zurückdrehen könnte, würde er nicht den Mord an Dabbeling ungeschehen machen. Für Liams Rettung, ja, schon allein für die Illusion von Liams Rettung könnte er, so viel steht fest, noch ganz andere Dinge tun. Aber er würde den Tatort nicht verlassen, ohne nach den Überresten seines Opfers gesucht zu haben.
Sebastian begreift, dass man selbst einen Statisten wie Dabbeling nicht ohne
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