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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erzählt?«
    Sebastian schüttelt den Kopf. Er zieht die Flasche zu sich heran und leert das zweite Glas in einem Zug. Torf und etwas Honig, eine gute Sorte. Oskar zündet eine Zigarette an und sieht zum Fenster, das nichts zeigt außer der Spiegelung seines eigenen Gesichts. Ihre Hände werden taub ineinander; Sebastian zieht die seine zurück.
    »Sie hält mich für einen Mörder«, sagt er.
    »Nicht ohne Grund, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
    »Es wäre einfacher, ihr die Wahrheit zu sagen, wenn sie das Ergebnis nicht schon voraussetzen würde.«
    »Vielleicht verlangst du ein bisschen viel?«
    »Oskar.« Als Sebastian die Hände auf die Augen presst, spürt er erneut die Wirkung des Chilis. »Sie wird nicht zu mir stehen. Ich werde sie verlieren. Und Liam auch.«
    Oskar drückt seine Zigarette aus und zündet eine neue an, was seine gewöhnliche Rauchfrequenz übersteigt.
    »Du wirst nicht aufgeben«, sagt er.
    »Das Absurde ist das Gefühl, die ganze Situation selbst inszeniert zu haben. Nicht in der Praxis, sondern in der Theorie.«
    »Sprichst du von deiner Viele-Welten-Ideologie?«
    »Wenn in der Mikrowelt ein Ereignis zugleich eintreten und nicht eintreten kann, muss das auch im Makrokosmos möglich sein. Habe ich das nicht immer behauptet?«
    »Sagen wir so: Du pflegtest einen etwas hemdsärmeligen Umgang mit den Schwierigkeiten beim Übergang von der Quantenmechanik zur klassischen Physik.«
    Sebastian wischt sich die tränenden Augen mit der Manschette seines Hemds.
    »Liam ist entführt worden und zugleich auch nicht. Seitdem hat alles an Gültigkeit verloren. Ich bin zum Bewohner eines Ein-Mann-Universums geworden. Sein Name ist Schuld.«
    Hinter der Bar zischt die Kaffeemaschine. Jemand lacht höflich. Der Hals des Fasans hing eben noch auf der anderen Seite über den Schüsselrand.
    »Komm zu dir«, sagt Oskar. »Du redest Unsinn.«
    »Nein!« Sebastian sieht seinem Freund aus geröteten Augen ins Gesicht. »Wenn ich nicht so versessen auf ein paar Tage ungestörter Arbeit gewesen wäre, hätte ich Liam nicht ins Pfadfinderlager gebracht. Das ist Kausalität. Die magst du doch.«
    »Zur Hölle damit«, sagt Oskar.
    »Ich hatte die Multiversen längst hinter mir gelassen.« Sebastians Stimme wird lauter und schnell. »Ich wollte mit physikalischen Mitteln belegen, dass Zeit nichts weiter als eine Funktion der menschlichen Wahrnehmung ist. Ich wollte dir den Boden unter den Füßen wegziehen.«
    Als er auf Oskar zeigt, fängt dieser seinen Finger ein und legt ihn zurück auf den Tisch.
    »Du«, sagt Sebastian, »wirst über kurz oder lang beweisen, dass Zeit und Raum über die Quantisierung die meisten Eigenschaften der Materie teilen. Das wird die nächste große Wende nach Kopernikus, Newton und Einstein. Du kennst die Gier nicht mehr, etwas Bahnbrechendes zu schaffen. In der Gier liegt die Schuld.«
    Hart stößt sein Glas gegen Oskars; sie trinken, ohne den Blick voneinander zu lösen.
    »Selbst wenn es so wäre«, sagt Oskar, »bestünde meine Leistung nur darin, der endlosen Reihe von Irrtümern, die wir die Menschheitsgeschichte nennen, einen weiteren hinzuzufügen. Das ist alles. Du weißt nichts von Schuld.«
    »Ich werde es dir in einfachen Worten erklären«, sagt Sebastian. »Du hast dich für die Physik entschieden und hältst ihr die Treue. Ich entschied mich für zwei Menschen und habe ihnen nicht die Treue gehalten.«
    Oskar bläst Rauch über den Tisch.
    »Du hast dich wirklich verändert. Gefällt mir nicht schlecht.«
    »Oskar«, fragt Sebastian, »gibt es irgendetwas, das dir wichtiger ist als die Quantenphysik?«
    Die Lehne knackt, als Oskar sich im Stuhl zurückwirft und ein Lachen lacht, das sein Gesicht vollständig verwandelt. Sebastian hat dieses Lachen schon tausendmal gesehen und ist trotzdem verblüfft. Auch seine Mundwinkel heben sich, und so sitzen sie plötzlich, einander zulächelnd, wie eingebettet in einem Futteral aus Wärme und gedämpftem Licht, in dem ihnen die äußere Welt nichts mehr anhaben kann. Der Augenblick verfliegt so schnell, wie er gekommen ist.
    »Du sitzt hier«, sagt Oskar, »siehst mich an und stellst diese Frage in vollem Ernst?«
    Sebastian betrachtet sein leeres Glas wie einen interessanten Untersuchungsgegenstand und schiebt es schließlich beiseite.
    »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagt Oskar. »Am Tag nach der Entführung hast du mich angerufen. Ich bin gleich nach der Arbeit aufgebrochen und am späten Abend in Freiburg

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