Schilf
sondern Leute nennen, pragmatische Umgangsformen besitzen und die Welt als einen guten Kumpel behandeln. Neben so viel Unkompliziertheit kann sich Schilf mit seiner Ehrfurcht vor der unendlichen Komplexität der Dinge auf entspannte Weise vorgestrig fühlen. Wer wie Julia mit den Worten »Ich habe keinen Job, keine Familie und keine Lust auf Hartz iv« in ein wildfremdes Leben eindringt, kann auch anrufen, um zu fragen, wie es geht.
»Gut«, sagt Schilf, was zugleich wahr und gelogen ist und deshalb weiterer Erläuterung bedarf. »Den Mörder habe ich gefunden. Jetzt kommt es darauf an, ihn vor der Polizei zu schützen.«
»Ich dachte, du arbeitest für die Polizei?«
»Das macht die Sache nicht einfacher.«
»Hast du dich in den Mörder verknallt?«
Diesmal ist es Schilf, der lachen muss. Er wünscht sich, das Leben ein einziges Mal mit Julias Augen zu sehen. Es müsste einem klar strukturierten Gebäude gleichen, nicht direkt einem Einfamilienhaus, das wäre zu langweilig, aber vielleicht einem Zirkuszelt mit Ein- und Ausgang, Sitzbänken und Dach. Den süßlichen Duft der Sägespäne kann der Kommissar förmlich riechen.
»Ein bisschen anders ausgedrückt«, sagt Schilf. »Er ist für mich ein großer Mann. Einer von der Sorte, denen man etwas schuldig ist. Ich schulde ihm die restlose Aufklärung des Falles. Alles andere würde ihn zerstören.«
»Es ist doch dein Auftrag, das Leben von Mördern zu zerstören.«
»Es gibt graduelle Unterschiede.«
»Der gute Polizist rettet einen armen Täter! Das klingt romantisch.«
Die Länge des Telefonkabels und die geringe Größe der Wohnung lassen es zu, dass Schilf an die Balkontür tritt. Der Balkon dahinter ist so klein, dass man kaum darauf stehen kann. Retten, denkt der Kommissar, will man eigentlich immer nur sich selbst. Was variiert, ist das Wovor.
»Ob du es glaubst oder nicht«, sagt Schilf, »ich würde alles daransetzen, um dem Mann zu helfen.«
»Ich glaube dir«, sagt Julia sanft. Sie hat sein langes Schweigen richtig gedeutet. »Ich glaube alles, was du mir erzählst. Schon aus strukturellen Gründen.«
»Was meinst du?«
»Das verstehst du nicht?«
»Nein.«
»Ich liebe dich.«
Unwillkürlich schüttelt der Kommissar den Kopf. Da ist sie wieder, die Idee, dass sein Leben vollkommen durcheinandergeraten ist. Aus weiter Entfernung meldet sich das Pochen des Kopfschmerzes. Schilf muss plötzlich an Maike denken. Gleichzeitig spürt er, dass er das Mittagessen übersprungen und das Abendessen verschlafen hat. Er zündet ein Zigarillo an und inhaliert den Rauch. Irgendwo in seinem Körper findet das Nikotin ein paar Glückshormone, die es freisetzen kann. Ein leichter Schwindel, ein sanftes Loslassen. So müsste Sterben sein, wie das Rauchen eines Zigarillos auf nüchternen Magen.
»Du bleibst also noch ein paar Tage«, sagt Julia.
»Sieht so aus.«
»Schön. Dann komme ich dich besuchen.«
»Morgen kann ich nicht«, sagt der Kommissar schnell. »Da habe ich schon etwas vor.«
»Also übermorgen.«
Unten zieht eine Gruppe Jugendlicher durch die Straße, ihre Stimmen dringen zu Schilf herauf. Junge Männer, weich und aufgeschwemmt von der Liebe ihrer Mütter; Mädchen, die sich die Wimpern zu Spinnenbeinen schminken. Sie schlagen einander auf die Schultern, zerren sich gegenseitig weiter, beugen sich über parkende Autos, um in die dunklen Innenräume zu sehen. Sie wirken ziellos und nebensächlich, eine bloße Episode in der Geschichte. Bei ihrem Anblick findet Schilf es unglaublich, was Menschen mit vereinten Kräften auf dieser Erde anrichten können. Der weibliche Teil auch noch auf Schuhen, in denen man nicht richtig laufen kann.
»Was würdest du sagen«, fragt er seine Freundin, »wenn ich demnächst auf unbestimmte Zeit verreisen müsste? Und zwar allein?«
»Schilf«, sagt Julia, und der Kommissar staunt über den Ernst, den sie in ihre Stimme legt. »Du hast mich nicht nach meiner Vergangenheit gefragt. Ich frage dich nicht nach deiner Zukunft. Das nennt man einen Deal.«
»Okay«, sagt Schilf und gebraucht damit eine Vokabel, die ihm eigentlich zuwider ist, aber gut zum »Deal« passt. Vielleicht wäre das Leben ein Zirkuszelt, denkt der Kommissar, wenn man die richtigen Begriffe dafür hätte. Begriffe wie Gummihandschuhe, mit denen man alles anfassen kann, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Julia kennt eine ganze Menge davon.
»Okay«, sagt er noch einmal. »Dann sehen wir uns übermorgen.«
Sie werfen Küsse
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